Vorbei ist eben nicht vorbei
von Kirsten Boie
Das muss das Paradies sein: Tagsüber baden sie in der Elbe, abends sitzen sie gemütlich vor dem neuen Fernsehgerät. Karin genießt den unbeschwerten Sommer 1961. Bis eine Freundin ihr den Buchtipp «Sternenkinder» gibt; es geht um jüdische Kinder, die während des Nationalsozialismus getötet wurden. Hat man wirklich die Juden umgebracht? Das ist gerade 20 Jahre zurück Haben ihre Eltern wirklich nichts davon gewusst? Das TV berichtet über den Eichmannprozess. Ein Nachbar war bekanntlich bei der Waffen-SS, was auch immer das war. Karins heile Welt wird plötzlich brüchig. Sie fragt die Eltern, die sehr ausweichend darüber hinweggehen. Karin bohrt weiter. Die Mutter behauptet, sie hat nichts davon gewusst, in ihrem Viertel habe es keine Juden gegeben, niemand hätte einen Stern auf dem Mantel gehabt. Kann es sein, dass man in einer Stadt wie Hamburg rein gar nichts von der Judenvernichtung mitbekommen hat?
Waren die Eltern ein Teil des Systems?
Der zweite Strang beschäftigt sich mit der großen Flut. Als in Hamburg die Deiche brechen, wird auch Karins Familie ein weiteres Mal obdachlos. Ein gerettetes Fotoalbum verstört Karin erneut. Kriegsfotos von Vati an der Ostfront – eins ist herausgetrennt, doch die Beschriftung darunter ist geblieben. Mutti beim BDM als Gruppenführerin ... wie soll sie damit umgehen?
Das kollektive Schweigen nach dem Krieg
Genau das hatte Reginas Mutter auch gesagt, als sie das von Onkel Heinrich gesagt hat. Man muss die Vergangenheit auch vergessen können, nur Karin kann das nicht. ‹Ich weiß›, flüstert sie. ‹Mein Vater ...›
Nach «
Dunkelnacht» und «
Heul doch nicht, du lebst ja noch» geht es in diesem Jugendroman erneut um die Nachkriegszeit und deutsche Geschichte. Das kollektive Schweigen nach dem Krieg. Auf Fragen der Nachkriegsgeneration gab es in der Regel keine Antwort – bzw. es wurden Kriegsanekdoten erzählt. Man wollte die schlimme Zeit des Krieges, die rückdenkend peinliche Zeit des Faschismus vergessen. Der Krieg war vorbei und die Überlebenden hatten miteinander auszukommen, gute Nachbarschaft war wichtig. Egal welche Position sie vorher besaßen. Die Nachkriegsgeneration wurde von vielen Eltern und Großeltern schlichtweg angelogen. Niemand hat etwas gewusst, gesehen, gehört – schon gar nicht hatte irgendjemand mitgemacht. Wir – ich gehöre zu dieser Generation – fühlten uns schlicht verarscht. Denn irgendwie schien es, dass alle Hitlergegner überlebt hatten, und anscheinend alle, die in der NSDAP Mitglied waren, alle die Sympathisanten, alle Wähler, und alle, die geholfen hatten, dieses Regime zu unterstützen, im Krieg gefallen waren. Niemand war dabei gewesen, geschweige hatte Hitler gewählt. Komisch. Und dann bekommst du Stück für Stück heraus, wer nun in hohen Ämtern sitzt, in Regierungen, Firmen führt ... In diesem Buch geht es Karin so. Plötzlich glaubt sie den Eltern nicht mehr. Aber innendrin kann sie nicht glauben, was die Augen sehen. Mutti beim BDM. Klar sagt Mutti, da mussten doch alle hin, war so was wie die Pfadfinder. Aber Mutti hatte ein leitendes Amt! Und der liebevolle Vati, der beste Vati der Welt – sie kann nicht glauben, was sie im Fotoalbum sieht. Wollen wir die Wahrheit verschweigen, auch vor uns selbst? Vertuschen, damit alles gut ist – oder gar nicht drüber reden, weil alle miteinander auskommen müssen, miteinander leben? Mit wem kann man sich über sein Wissen austauschen? Mit Kriegsende war eben nicht alles vorbei. Karin wird rebellisch, schert sich nicht drum, was die Eltern verbieten: Sie hört Ne...musik, schminkt sich, «Eine deutsche Frau schminkt sich nicht», gegen den Willen der Eltern werden die Zöpfe abgeschnitten und eine amerikanische Frisur schmückt den Kopf. Obendrein mit verruchtem Pony, der sich nun gar nicht schickt.
Die große Flut
Sehr berührend wird auch die Flutkatastrophe beschrieben. Die Familie wird getrennt. Vati arbeitet auf der Werft, Mutti setzt Karin mit der «Notfalltasche» (die sie seit Kriegszeiten gepackt hat) auf dem Dach ab, zu den Nachbarn, und geht hinüber zum Deich, um ihren Sohn zu holen, der beim Freund schläft. Doch sie kommen nicht zurück. Karin hört die Schreie der Tiere, die Hilferufe der Nachbarn, die das Wasser im Schlaf erwischt hat – denen man nicht helfen kann. Wer wird am Ende überleben? Sehr fein bindet Kirsten Boie auch typische Merkmale des Zeitgeschehens ein. Fernsehschauen bei den Nachbarn – es konnte sich nicht jeder einen leisten. Beengter Wohnraum; denn die zerstörten Häuser waren längst noch nicht alle wieder aufgebaut. Salzstangen und Fliegenpilze (halbe Tomate mit Mayo-Tupfer auf hartgekochtem Ei) für die Gäste; Kartoffelsalat, Sonntagsbraten, div. TV-Sendungen und Musik aus der Zeit, man nähte sich die Bekleidung zum Teil selbst usw. Ein Zeitbild! Die inneren Konflikte der Nachkriegsjugend, die Probleme der heranwachsenden Generation werden sensibel dargestellt und auch die große Flut, die das neu aufgebaute Hamburg ein weiteres Mal zerstörte. Empfehlung für das Jugendbuch ab 12 Jahren! Aber auch für Erwachsene dieser Zeit interessant zu lesen, die mit dem kollektiven Totschweigen und den Lügen aufgewachsen sind. Gute Schullektüre.
Kirsten Boie ist eine der renommiertesten, erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie wurde 1950 in Hamburg geboren, studierte dort Germanistik und Anglistik. Zwei Semester besuchte sie die Universität Southampton/Großbritannien. Nach dem ersten Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Englisch promovierte sie im Fach Literaturwissenschaft. Sie arbeitete als Lehrerin. 1983 adoptierte sie mit ihrem Mann ihr erstes Kind. Auf Verlangen des vermittelnden Jugendamtes musste sie ihre Berufstätigkeit aufgeben - so waren die Zeiten damals - , um sich ganz dem Kind widmen zu können. Inspiriert durch die eigene Situation schrieb sie so ihr erstes Kinderbuch «Paule ist ein Glücksgriff». Ihr Debüt wurde ein Erfolg (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, Buch des Monats der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach; Ehrenliste des Österreichischen Staatspreises für Kinder- und Jugendliteratur). Und Kirsten Boie selbst erwies sich als Glücksfall für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Für ihr Engagement für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur wurde ihr 2019 die Hamburger Ehrenbürgerwürde verliehen. Inzwischen sind von Kirsten Boie weit mehr als hundert Bücher erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, die von ihrer enormen literarischen Vielseitigkeit, großem Einfühlungsvermögen, vor allem aber von ihrem sozialen Engagement Zeugnis geben. Zwei Dinge sind Kirsten Boie beim Schreiben besonders wichtig: Zum einen, dass Literatur für Kinder immer auch Literatur sein sollte; zum anderen, dass darüber nicht vergessen wird, an wen sie sich richtet, dass sie also Literatur für Kinder ist: «Bei dem Spagat zwischen beiden Anforderungen rutsche ich sicherlich einmal mehr zur einen, einmal zur anderen Seite hin aus.» 2007 wurde Kirsten Boie für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet. 2015 gründet Kirsten Boie die Möwenweg-Stiftung, um Kindern in Swasiland zu helfen.
Kirsten Boie
Vorbei ist eben nicht vorbei
Jugendroman, Flutkatastrophe Hamburg, Antisemitismus, deutsche Geschichte, Nachkriegszeit, Krieg
Taschenbuch, 192 Seiten
Oetinger Verlag, 2022
Altersempfehlung: ab 12 Jahren
Ein grandioser Jugendroman ab 14 Jahren, den ich auch Erwachsenen empfehlen mag. Hamburg, Juni 1945: Die Stadt liegt in Trümmern. Drei Jugendliche haben es überlebt. Traute, Hermann und Jakob werden sich kurz über den Weg laufen in dieser ereignisreichen Woche. Ein Halbjude, der sich versteckt hat, lebt in den Trümmern, wartet auf das Kriegsende. Eine Familie muss die Wohnung mit einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie teilen. Ein Vater hat den Krieg überlebt, doch beide Beine sind amputiert, ein schweres Päckchen, das die Familie zu tragen hat. Ein Jugendbuch, das niemanden kalt lässt zum Thema Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Pogrome, Nachkriegszeit ab 14 Jahren – Empfehlung, auch als Unterrichtsmaterial.
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Dunkelnacht von Kirsten Boie
Kirsten Boie hat hier ein großartiges Jugendbuch vorgelegt, das sich mit einem wenig erwähnten Thema beschäftigt, nämlich mit den Morden, die kurz vor Beendigung des Zweiten Weltkriegs stattfanden: Endphasenverbrechen nennt man sie. Eine wahre Geschichte, die in Prenzberg stattfand. Bürger, die in der Nacht vor dem Einmarsch der Amerikaner durch die Nazis getötet wurden, erschossen durch die Wehrmacht, erhängt durch den Wehrwolf. In einer Nacht verlor die Stadt 16 unbescholtene Bürger, Kriegsverbrechen Nazideutschland. Eine bewegende Novelle ab 14/15 Jahren.
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Der Duft der Kiefern von Bianca Schaalburg
Mit den geerbten Möbeln von Oma begannen die Fragen. Bianca Schaalburg hat ihre Familiengeschichte in einem Comic aufgearbeitet. Die Großeltern hatten die Möbel zu Hochzeit bekommen: 1933. Die Autorin entdeckt auf Familienfotos, dass Opa bereits 1929 ein Hitlerbärtchen trägt, eine entsprechende Frisur und er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten. Er war Truppenführer bei der SA, hat diese aber 1929 wieder verlassen. Warum nur? Welche dunkle Vergangenheit liegt über ihrer Familie? Die Autorin und ihr Sohn fangen an zu recherchieren. Eine Graphic Novel ab 14 Jahren / Allage
Literatur zum Thema Judenvernichtung / NS-Regime, 2. Weltkrieg, Nachkriegszeit
Vor 75 Jahren – am 27. Januar 1945 – befreiten sowjetische Truppen das Vernichtungs- und Zwangsarbeitslager Auschwitz – ein Konzentrationslager. Hier wurden Millionen von Menschen abgeschlachtet – vergast. In der Hauptsache Menschen mit jüdischem Glauben, aber auch sogenannte Zigeuner und Behinderte. Für die NSDP Untermenschen. Ebenso vermeintliche Staatsfeinde: Kommunisten, Mitglieder der SPD, Verräter, erwischte Mitglieder von Untergrundorganisationen, Deserteure.
Erst im Jahr 2005 führten die Vereinten Nationen den 27. Januar als Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ein.
In diesem Artikel findet ihr Literaturtipps zum Thema.
Weiter zum Blogartikel: Gedenktag zur Befreiung des Vernichtungs- und Zwangsarbeitslager Auschwitz
Kinder- und JugendliteraturKinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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