Rezension
von Sabine Ibing
Irrfahrt
von Toine Heijmans
Der Anfang:
Die Wolken hatte ich nicht gesehen. Sie müssen sich hinter meinem Rücken zusammengezogen haben. Sie müssen auf Befehl aufmarschiert sein. Nun hängen sie vor dem Bug, in Gefechtsaufstellung. Wie flache Kiesel, schiefergrau am Himmel, ein gigantisches Mobile von Wolken, wie früher eines über ihrem Kinderbett gehangen hat.
Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein.
Ich darf nicht vergessen, die Leine mit den Flaggen zu hissen, die ich an Steuerbord in ein Schränkchen gestopft habe. Damit wird das Boot festlich aussehen, wenn wir in den Hafen einlaufen: festlich, stolz und unbeschwert. Ich darf auch nicht vergessen, Maria das Haar zu bürsten und es mit einem Haargummi zusammenzubinden. Frische Klamotten. Vielleicht muss ich ihr schnell noch das Gesicht waschen. Sie muss aussehen, als ob ihr nichts passiert ist. Strahlend muss sie aussehen.
Das Buch wurde verfilmt und in acht Sprachen übersetzt; in Frankreich wurde es mit dem renommierten Prix Médicis étranger ausgezeichnet. – Ich frage mich warum. Das Kind ist verschwunden bei hoher, kalter See, ohne Rettungsweste und der Vater will sie suchen; weiß noch nicht einmal, wo sie über Bord gegangen ist: «Solange es niemand weiß, ist sie auch nicht verschwunden. Solange es noch dunkel ist, sieht niemand, was passiert ist. Die Nacht geht jetzt schnell zu Ende.» Spätestens an diesem Punkt weiß man, mit diesem Mann stimmt irgendetwas nicht – das bahnt sich von Anfang an an. Ich habe eine Menge Bücher zu Seefahrt und Segeln gelesen und fast alle hatten ein Händchen für Nature Writiung – das fehlt hier völlig, der Autor agiert lediglich mit Segel-Fachausdrücken. Auch konnte mich die gesamte Geschichte nicht begeistern.
Ich will Maria nur kurz berühren, um sie zu beruhigen. In der dunklen Koje taste ich mit der rechten Hand unter die Decke, finde aber nichts. Das ist sonderbar. Kurz muss ich mich abstützen, weil das Boot so schwankt. Ich schwitze. Dann versuche ich es noch einmal. Ich mähe mit dem Arm unter der Decke hindurch, ziehe die Decke aus der Koje heraus, klettere auf die Matratze. Nichts. Sie ist nicht da. Maria ist verschwunden. Und ihr Eisbär auch.
Zeitungen verglichen den Autor mit Melville, Conrad oder Hemingway – irgendwie muss ich ein anderes Buch gelesen haben. Für mich hat dieser Roman sprachlich gar nichts zu sagen – schlicht geschrieben, keine gedanklichen Tiefen, keine Atmosphäre, keine sprachlich geschickten Konstruktionen. Im Gegenteil, die ein oder andere Metapher ließ mich eher ratlos zurück. Schnell ist klar, wir haben es mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun. Am Ende wird es endlich ein wenig spannend. Zu spät für mich, der Autor konnte mich nicht packen. Der Mann sucht eine Bindung zu seiner Tochter, die ihm zu entgleiten droht. Was ein Mann so macht mit Kindern, wie er meint: Abenteuer bestehen. Doch Donald ist bereits die Realität entglitten, sein Job, sein gesamtes Leben droht zu ertrinken. «Mein Körper ist aus Gummi. Mein Kopf ist aus Eis. Alles, was ich sage oder denke, ist wertlos.» Der Autor schreibt, «irgendwann übernimmt das Meer» – ich würde es anders ausdrücken: Wenn das Leben zu viel wird, klinkt sich das Gehirn aus der Realität aus. Allest Geschmack – viele Leser waren von diesem Roman begeistert – ich leider nicht. Aber das will ja nichts heißen.
Der Motor fiel aus. Die Segel hatten nicht mehr genug Kraft, um die Wellen zu überwinden. Stattdessen drückten diese das Boot jetzt zur Seite, auf die Längsbuhne zu. Der Damm bestand aus rohem Basalt, ein schlechtes Gebiss aus Stein, umschlungen von Algenfäden. Wenn nichts geschah, würde das Boot an den Zacken des Damms leckschlagen.
Toine Heijmans, 1969 im niederländischen Nijmegen geboren, studierte Geschichte und arbeitete seitdem für verschiedene Tageszeitungen. Derzeit schreibt er eine Kolumne für die niederländische Tageszeitung De Volkskrant, in der er aktuelle Themen und das Leben in seinem Land kommentiert.
Sein Roman »Op zee« (dt. »Irrfahrt«) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, verfilmt und als erster niederländische Roman überhaupt mit dem französischen Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Auch seine Romane »Pristina« und »Der unendliche Gipfel« wurden zu Bestsellern.
Neben zahlreichen weiteren Literatur- und Journalistenpreisen wurde Heijmans auch in den Ordre des Arts et des Lettres aufgenommen.

Irrfahrt
Originaltitel: Op Zee
Aus dem Niederländischen von Ilja Braun
Zeitgenössische Literatur, Niederländische Literatur
Broschur, 176 Seiten
Mairisch Verlag, 202
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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