Direkt zum Hauptbereich

Der Duft der Kiefern von Bianca Schaalburg - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Duft der Kiefern 


von Bianca Schaalburg

Meine Familie und ihre Geheimnisse


Mit den geerbten Möbeln von Oma, eine schwere Art-Déco-Garnitur aus Nussbaumholz und einem Kleiderschrank begannen die Fragen. Bianca Schaalburg hat ihre Familiengeschichte in einem Comic aufgearbeitet. Die Großeltern hatten die Möbel zu Hochzeit bekommen: 1933. Heinrich Schott, gelernter Dentist und Else Rahtung, Absolventin der Haushaltsschule, heiraten. Sie bekommen vier Kinder, die Jüngste wird nach der Tochter von Reichsmarschall Hermann Göring benannt: Edda. Mutter bekommt das «Ehrenkreuz der Deutschen Mutter», kurz Mutterkreuz. Die Voraussetzungen zur Verleihung war, dass die Eltern der Kinder «deutschblütig» und «erbtüchtig» waren, die Kinder Lebendgeburten. Die Autorin entdeckt auf Familienfotos, dass Opa bereits 1929 ein Hitlerbärtchen trägt, eine entsprechende Frisur und er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten. Ein Archiv belegt, dass er 1933 arbeitslos war, und bei der «Deutschen Arbeitsfront» eine Stelle als Buchhalter erhielt. Er war Mitglied bei der rechtsextremen Gruppe Frontbann. Er war Truppenführer bei der SA, hat diese aber 1929 wieder verlassen. Warum nur? Welche dunkle Vergangenheit liegt über ihrer Familie? Die Autorin und ihr Sohn fangen an zu recherchieren. Jetzt wird es interessant für die beiden. In der Familie weiß niemand etwas über die Judenverschleppung – über dieser Zeit lag die Decke des Schweigens festgezurrt. Verdrängung und Lügen. 







Was hat Großvater Heinrich, angeblich nur als Buchhalter bei der Wehrmacht in Riga stationiert, von den Gräueltaten der Nazis gewusst? An einem Ort, wo eines der schlimmsten Kriegsverbrechen an den Juden stattfand, wo die einheimischen Juden in einem Arbeitslager kaserniert wurden, und später kamen insgesamt etwa 25.000 deportierte deutsche Juden dazu. Die wenigsten von ihnen haben überlebt: Die meisten wurden im Wald von Bikernieki durch die deutsche Sicherheitspolizei und lettische Hilfskräfte erschossen und in Massengräbern verscharrt. War der Großvater vielleicht selbst beteiligt? Außerdem finden Enkelin und Urenkel bei der Recherche heraus, dass in dem Mietshaus im Eisvogelweg 5, in dem die Großeltern mit ihren Kindern lebten, damals auch jüdische Mitbürger wohnten. Hat die Familie von der Enteignung profitiert oder war sie gar dafür verantwortlich? Haben sie es hingenommen oder sogar befürwortet? Eine Suche in der Vergangenheit beginnt – Puzzlearbeit. Von den jüdischen Berlinern bleiben nur Namen auf Stolpersteinen, drei dieser Leben malt Bianca sich aus: Deportation, Theresienstadt, Gaskammern. Die Kiefern tauchen immer wieder in der Geschichte auf, der Duft beim Spaziergang, gespenstische Baumgerippe beim Massenmord im Wald von Bikernieki, oder idyllisch als Kiefernzapfen am Pendel einer Kuckucksuhr.




Die Kriegsgenerationen haben geschwiegen, ihre Kinder bekamen keine Antworten. Enkel und Urenkel sind wesentlich forscher, tragen keine Erinnerung oder Last auf den Schultern. Sie wollen es wissen; forschen, geben sich nicht mit Plattitüden und lustigen Anekdoten und Schwarzmarktgeschichten zufrieden. Sie wollen wissen, inwieweit ihre Familien in Gräueltaten verwickelt sind. Eisiges, kollektives Schweigen oder Sprachlosigkeit prägte die Nachkriegszeit. Die die Großeltern in diesem Comic wollten von alldem nichts gewusst haben – obwohl ihre jüdischen Nachbarn in Berlin-Zehlendorf mit vielen anderen nach Theresienstadt transportiert worden. Wer soll das glauben? Ein Esstisch der Familie ist Zeuge – der stand nämlich in der Wohnung eines Juden zuvor. Die jüdischen Nachbarn Clara, Carl und Margarete lebten in diesem Mietshaus. Die Autorin forscht und entwickelt für diese drei einen kurzen fiktiven Lebenslauf aus den Puzzleteilen, die sie zu den Personen aufspüren konnte. Drei Personen, die für Millionen stehen, für die Shoah. Die Graphic Novel durchläuft verschiedene Jahrzehnte, wobei die Nazizeit natürlich in sattem Braun gehalten ist. Die Zeit danach wird heller und rosiger.



Zehlendorf, Eisvogelweg, U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, die Papageiensiedlung, Onkel Toms Ladenstraße, Krumme Lanke und der Schlachtensee von der NS-Zeit bis heute; Bianca Schaalburg setzt diese Ecke von Berlin in Szene. Vorkriegszeit, Kriegszeiten, Berlin in Flammen – das KZ in Riga, Bikernieki und Theresienstadt – eindrücklich hält sie grafisch die Szenen fest. Eine eindrückliche Graphik Novel zur Aufarbeitung eine Familiengeschichte.


Bianca Schaalburg ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Schon vor dem Studium hat sie ihre erste Comic-Seite in der „zitty“ veröffentlicht und während des Studiums unzählige Cartoons und erste Bücher publiziert. Das erste illustrierte Buch erschien 1991. Nach dem Studium der Visuellen Kommunikation an der  UdK Berlin (Vordiplom mit einem Bilderbuch bei Jürgen Spohn, Diplom mit einer Graphic Novel bei Jan Lenica) arbeitet sie als freie Illustratorin für Verlage, Redaktionen und Agenturen. Sie gibt Workshops und führt Buchvorstellungen  an Bibliotheken und Schulen durch. Zahlreiche Arbeiten im Bereich Kinder- und Jugendbuch sind u.a. bei Cornelsen, dtv, Fischer-Sauerländer, Oetinger, Ravensburger & Tulipan erschienen. Seit 2006 arbeitet sie als Illustratorin im Atelier Petit 4. Stipendiatin der VG Bildkunst: Projektförderung für die Graphic Novel «Der Duft der Kiefern»; Preisträgerin des Comic Contest der Comic Invasion Berlin 2019; Finalistin beim Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung 2021; Gewinnerin eines COMIC-Stipendiums des Berliner Senats für 4 Monate 2021


Bianca Schaalburg
Der Duft der Kiefern. 
Meine Familie und ihre Geheimnisse
Comic, Jugendbuch, Allage, historische Grafic Novel, NS-Zeit
Hardcover mit Lesebändchen, 208 Seiten, 19,5 x 26,5 cm, vierfarbig
avant Verlag, 2021
Altersempfehlung: ab 14 Jahren, Allage



Graphic Novel, Comic, Grafisches  

Für die Fans von Comis / Graphic Novels und sonstigem Gezeichneten, wie Satire. Hier auf dieser Seite zusammengefasst.  Alle Altersgruppen. Graphic Novel, Comic, Grafisches

Jugendbücher ab 14 Jahre / Allage


Kinder- und Jugendliteratur


Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo