Rezension
von Sabine Ibing
Die Lungenschwimmprobe
von Tore Renberg
Leipzig im Jahre 1681: die fünfzehnjährige Anna Voigt steht vor Gericht, weil sie ihr neugeborenes Baby getötet haben soll; und die Mutter gleich mit ihr, die das versucht haben soll zu vertuschen. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht Anna der Tod - wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die des gleichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen mächtigen Vater, der sich für sie einsetzt, sondern auch einen Anwalt, der wissenschaftlich argumentiert. Mit dabei ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und die «Lungenschwimmprobe» einsetzt. Durch dieses soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert. Kann sie gerettet werden?
Ein junger unbequemer Anwalt
Wir werden ja sehen, was das Gericht dazu meint. Das junge Ding hat sein Kind getötet, mehr habe ich zu der Sache nicht zu sagen, und Ihr seid ein Zauberer, Herr Schreyer, das kann Euch teuer zu stehen kommen, Anna Voigt muss ertränkt werden, sie muss bestraft werden!
Tore Renberg hat sich einen wahren Fall vorgenommen, bei dem die fünfzehnjährige Anna Voigt, die Tochter von Hans Heinrich Voigt, dem Besitzer des Rittergutes Greitschütz, angeklagt wurde wegen Unzucht, Geburt im Geheimen und Tötung ihres Kindes. Die Köchin, der Knecht und der Lehrer gruben das tote Kind im Garten wieder aus, beschuldigen die Mutter beim Pfarrer, es umgebracht zu haben. Der junge Rechtsgelehrte Christian Thomasius übernimmt den Fall. Ein Mann der Wissenschaft, in einer Zeit des Umbruchs. Ein unbequemer Mensch für die Obrigkeit, der so vieles in Frage stellte, seine Vorlesungen auf Deutsch hielt, was ihm Ärger brachte, der großen Wert auf eine strikte Trennung von Recht und Moral legte, Wert auf eine scholastische Denkstruktur und Beweisführung legte, viel mit dem usus modernus zur Modernisierung der Rechtsordnung beigetragen hat, die Trennung zwischen Staat und Kirche.
Sie schufen eine neue Wissenschaft - die Rechtsmedizin
Der Stadtphysikus Dr. Johannes Schreyer war wissenschaftlich auf der Höhe seiner Zeit. Anna behauptete, das Kind sei tot geboren. Er führte die Obduktion des Babys durch und er hatte gelesen, dass die Lungen einer Totgeburt in Wasser versänken, da diese noch nicht entfaltet seien, diejenigen eines lebendgeborenen Kindes aber schwämmen, weil das Kind Luft eingeatmet hat. Die Lungen des Babys von Anna gehen unter. Schreyer und Thomasius gingen mit diesem Fall in die Historien der Gerichtsmedizin ein – letztendlich schufen sie eine neue Wissenschaft. Das damals geltende Gesetzbuch Constitutio Criminalis Carolina (Carolina) war überholungsbedürftig. Doch die Kirche stellte sich hartnäckig gegen die Naturwissenschaft. Und in diesem Fall ging es letztendlich nicht nur um Tochter und Mutter; Heinrich Voigt war kein Adliger, hatte das Gut nach der letzten Pest günstig erworben. Das war den Adligen ein Dorn im Auge, die keinen Emporkömmling in ihren Reihen dulden wollten – gern würden sie ihm das Gut wieder nehmen.
Ein gutes Gesellschaftsbild der Zeit
Jene Frauen, die ein lebendiges oder wohlgebildetes Kind geboren haben und es heimlich, böswillig, vorsätzlich töten, werden gewöhnlich lebendig begraben und gepfählt. Um die damit verbundene Verzweiflung zu verhindern, kann die besagte Übeltäterin indes auch ertränkt werden, sollte das Gericht Zugang zu einer geeigneten Wasserstelle haben. (Strafgesetzbuch 1532; Artikel 131)
Hier erzählt uns ein auktorialer Erzähler distanziert die Geschichte, der eingreift, erklärt, bewertet und erläutert, was in der weiten Zukunft geschehen wird, der Zeitsprünge füllt. Mal erzählend, mal beobachtend führt er uns durch den ziemlich langwierigen Prozess, der im Vergleich zu anderen Prozessen sich ewig in die Länge zieht – man will ja dem Vater an den Kragen. Amtmann Walther, ein Stiefellecker des Adels, lässt Anna und ihre Mutter, die erst mal untergetaucht sind, steckbrieflich suchen, als wären sie Mörderinnen, und Pastor Johann Benedict Carpzov schießt aus dem Hinterhalt mit seinen Kontakten. Der Erzähler wechselt oft die Perspektive, schlüpft in die verschiedenen Charaktere hinein, in ihre Gedanken. So erfahren wir auch etwas über den Henker der Stadt, über die gesellschaftliche Ächtung seiner Familie. Der Roman gibt ein gutes Gesellschaftsbild der Zeit wieder – der auslaufende Barock tritt ein in den Klassizismus und die Zeit der Aufklärung. Ein interessanter Fall, der von vielen Seiten befeuert wird und der Autor geht tief in seine Charaktere hinein, in Nebenstränge. Briefe und Sonette runden die Vielfältigkeit ab. Ich habe das ein oder andere Mal geblättert, für mich war es ein wenig zu zäh geschrieben, aber gekonnt. Wer nicht davor zurückschreckt eine ausgebreitete gut recherchierte Geschichte zu lesen, dem wird der Roman gefallen – denn der Fall der Anna Voigt und ihrer Familie berührt.
Tore Renberg, geboren am 3. August 1972 in Stavanger, ist ein norwegischer Schriftsteller und Musiker. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Bergen. Er arbeitet als Literaturkritiker und Journalist und moderierte darüber hinaus von 1998 bis 1999 eine eigene Sendung im norwegischen Fernsehen (NRK). Renberg hat in verschiedenen Genres veröffentlicht: Romane, Kinderbücher, Novellen, Theaterstücke und Filmdrehbücher.
Die Lungenschwimmprobe.
Originaltitel: Lungeflyteprøven
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Karoline Hippe
Historischer Roman, Rechtsmedizin, Johannes Schreyer, Christian Thomasius
Hardcover, 704 Seiten
Luchterhand Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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