Rezension
von Sabine Ibing
Der Liebhaber
von Marguerite Duras
Der Anfang:
Eines Tages, ich war schon alt, kam in der Halle eines öffentlichen Gebäudes ein Mann auf mich zu. Er stellte sich vor und sagte: »Ich kenne Sie seit jeher. Alle sagen, Sie seien schön gewesen, als Sie jung waren, ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie heute schöner finde als in Ihrer Jugend, ich mochte Ihr junges Gesicht weniger als das von heute, das verwüstete.
Sie treffen sich auf einer Fähre über dem Mekong, es ist ein ungleiches Paar im Indochina der dreißiger Jahre. Er ein Chinese aus reichem Elternhaus, etwas mehr als 12 Jahre älter, sie eine französische Halbwaise, die mit ihrer Mutter und zwei Brüdern in einem einst herrschaftlichen Haus am Fluss lebt, die sich Direktorin nennt, eine kleine Schule auf dem Land führt. Finanziell stehen sie schlecht. Das Mädchen geht auf ein französisches Gymnasium in Saigon, schläft in der Woche im Internat. Ein abgedunkeltes Zimmer oberhalb des geschäftigen Straßenlebens in Saigon wird der heimliche Zufluchtsort der Liebenden. Sie ist seine Obsession, sie hat ihn in der Hand.
Doch dann, eines Tages, sind sie nicht mehr da. Sie sind jetzt tot, die Mutter und die beiden Brüder. Auch für die Erinnerungen ist es zu spät. Jetzt liebe ich sie nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie geliebt habe. Ich habe sie verlassen. Ich habe den Duft der Haut meiner Mutter nicht mehr im Kopf, die Farbe ihrer Augen nicht mehr in meinen Augen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Stimme, nur manchmal an jene sanfte Stimme der Erschöpfung am Abend.Das Lachen, ich höre es nicht mehr, weder das Lachen noch ihr Geschrei. Es ist vorbei, ich erinnere mich nicht mehr.
Marguerite Duras beschrieb immer wieder Tabuthemen – in diesem Fall das sexuelle Verhältnis einer fünfzehnjährigen Französin, die in Saigon eine Amor fue mit einem zwölf Jahre älteren Chinesen hat. Er holt sie täglich mit seiner Limousine und Chauffeur von der Schule ab und sie haben Sex miteinander. Für sie ist es ein Spaß, er wird zeitlebens nicht von ihr loskommen. Seinem Vater, einem Bauunternehmer, gehören ganze Straßenzüge in Indochina, und der hat bereits für den Sohn eine Ehe arrangiert. Bekommt die Mutter nichts mit, fragt man sich. Doch, anfänglich hat sie einen Verdacht schimpft. Aber dann lädt der Chinese die Familie zum Essen ein – über das, was zwischen den beiden läuft, wenn sie allein sind, wird einfach geschwiegen. Das Geld des Chinesen lockt. Die Familie behandelt den Mann von oben herab – weil er ein Chinese ist, obwohl er ihnen weit überlegen ist. Die Mutter kümmert sich letztendlich nicht um das Mädchen, sondern ausschließlich um ihren ältesten Sohn, den sie von vorn bis hinten verwöhnt. Er wird sie zeitlebens abzocken, nichts auf die Reihe bekommen, Unsummen von Geld verspielen. Auch für den talentierten jüngsten Sohn interessiert sich die Mutter nicht – er ist daher eng mit seiner Schwester verbunden. Leider stirbt er früh.
Meine Brüder werden nie das Wort an ihn richten. Als sei er unsichtbar, als fehle ihm die Konsistenz, um von ihnen wahrgenommen, gesehen, gehört zu werden. Und zwar deshalb, weil er mir zu Füßen liegt, weil vorausgesetzt wird, dass ich ihn nicht liebe, dass ich wegen des Geldes mit ihm zusammen bin, dass ich ihn nicht lieben kann, dass dies unmöglich ist, dass er alles von mir erdulden würde, ohne in seiner Liebe nachzulassen. Und dies, weil er ein Chinese ist, weil er kein Weißer ist.
Eine toxische Familie, eine Familie im Verfall. Marguerite Duras spricht manchmal von dem Mädchen, dann fällt sie wieder in die Icherzählerin, lässt in der Schwebe, ob sie autobiographisch schreibt. Die alternde Schriftstellerin, die ihre Erinnerungen niederschreibt, blickt zurück auf ihre Jugend, auf ihre Mutter, auf ihre Familie, daran, wie sie zerfallen ist. Man fragt sich, ist es diese Beziehung Prostitution, weil der Chinese das Mädchen bezahlt, die Mutter finanziell unterstützt, die Spielschulden des älteren Bruders begleicht. Das Mädchen genießt den Sex, macht sich aber nicht viel aus dem Mann an sich. Der Roman ist in Erinnerungsfragmenten geschrieben, Sprünge in Zeit und Raum, dicht und schnörkellos, distanziert. Nach Erscheinen hat es 1984 wilde Empörung über die französischen Lolita gegeben, und letztlich erhielt Marguerite Duras den wichtigsten Literaturpreis des Landes dafür: der Prix Goncourt. Es wurde immer wieder spekuliert, was von dem Roman autobiographisch war, was fiktiv. Die Autorin hat die Leserschaft zeitlebens darüber im Dunkeln gelassen. Ein Klassiker, den es sich lohnt zu lesen!
Nie guten Tag, guten Abend, ein gutes neues Jahr. Nie danke. Nie ein Gespräch.Nie das Bedürfnis zu reden. Alles bleibt stumm, fern. Eine Familie aus Stein, versteinert bis zur Undurchdringlichkeit, unzugänglich. Tag für Tag versuchen wir einander umzubringen. Nicht nur, daß wir nicht miteinander reden, wir schauen uns nicht einmal an.
Marguerite Duras wurde am 4. April 1914 in der ehemaligen französischen Kolonie Gia Dinh, dem heutigen Vietnam als Marguerite Donnadieu geboren und starb am 3. März 1996 in Paris. Sie besuchte das Lycée Français in Saigon und machte 1931 Abitur. Ein Jahr später siedelte die Familie nach Paris um, wo sie an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Paris und an der École des Sciences Politiques studierte. Von 1935 bis 1941 arbeitete sie als Sekretärin im Ministère des Colonies. 1939 heiratete sie Robert Antelme. Beide waren ab 1940 in der Résistance aktiv. Antelme wurde später ins Konzentrationslager Dachau deportiert. 1943 erschien ihr Debütroman Les Impudents (Die Schamlosen) unter dem Pseudonym Marguerite Duras, welchem keine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zuteil kam. Mit Un Barrage contre le Pacifique(Heiße Küste), das 1950 erschien, hatte Duras größeren Erfolg. Sie schrieb nicht nur Romane, sondern verfasste auch Theaterstücke und trat als Filmregisseurin in Erscheinung. Neben ihren literarischen Beiträgen war Duras für ihre offene politische Haltung bekannt, insbesondere in Bezug auf Frauenrechte, und sie engagierte sich aktiv in der feministischen Bewegung in Frankreich. Der Roman L’Amant (1984; Der Liebhaber; Film 1992) gewann 1984 den renommierten Prix Goncourt.
Der Liebhaber
Originaltitel: L’amant
Klassiker, Frankreich, Vietnam, Liebesroman, Klassiker, zeitgenössische Literatur, französische Literatur
Taschenbuch, 194 Seiten
Suhrkamp, 1989
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Roman


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