Direkt zum Hauptbereich

Flusslinien von Katharina Hagena - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Flusslinien 


von Katharina Hagena

Gesprochen von Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann, Jesse Grimm
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 11 Std. und 15 Min.


Junge Menschen denken viel mehr über den Tod nach als alte. Wenn der Tod näher kommt, muss man nicht mehr so viel an ihn denken, er macht sich von allein bemerkbar.


Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin, jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Die Erinnerungen und Ausflüge in einen Park halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin Luzie, die sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet hat. Sie übernachtet nun allein in einer Hütte für Sportler an der Elbe, will Tätowiererin werden. Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand der Elbe ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld.


Ein Sammelsurium des täglichen Lebens

 

Nun, da die Schatten länger und die Risse tiefer werden, muss sie noch einmal ihre letzten Bilder einordnen.


Drei Lebensgeschichten, die sich überkreuzen, an zwölf Tagen zu Beginn des Sommers an der Elbe. Der Fluss als Symbol des Lebens, immer fließend, sich dabei langsam verändernd. Margrit hat in über hundert Jahren viel erlebt, lässt sich jeden Tag in den Römischen Garten bringen, redet mit dem Gärtner. Rückblicke auf ihr Leben, auf das Leben ihrer Mutter, Kriegsjahre, Verlust. Und bevor sie stirbt, wünscht sie sich ein Tattoo von der Enkelin. Luzie hat etwas erlebt, das sie aus der Bahn geworfen, hat, über das sie nicht reden mag. Arthur ist der Fahrer der Residenz, der die Bewohner transportiert. In seiner Freizeit sucht er nach verborgenen Schätzen mit einem Metalldetektor; er muss noch den Suizid seines Zwillingsbruders verarbeiten, den niemand hat kommen sehen. Eine Geschichte, nett geschrieben, die entschleunigend und sich mäandernd dahinzieht. Es gibt Geschichten in der Geschichte, wie die der jüdischen Gesangslehrerin Else Hoffa, die nach England fliehen konnte. Margits Sohn Frieder, der Vater von Luzie hat sich scheiden lassen, lebt nun in Australien mit seiner neuen Familie. Ukrainekrieg, eigene Kriegserlebnisse, Verluste, diverse Ehen, Klimawandel, Fridays for Future, Elbvertiefung, antike Mythologie, Corona-Pandemie, Gregor und sein vergeblicher Kampf gegen die Maulwurfshügel und vieles mehr ist in dieser Geschichte angesprochen – ein Sammelsurium des täglichen Lebens.


Der Fluss zieht gemächlich seinen Weg 


Tattoos und Piercings geben dir die Kraft, einem Blick, der Macht über dich ausüben will, etwas entgegenzusetzen.


Der Roman ist in Ordnung, weil die Sprache meistens stimmt. Es gibt aber auch gewollt gezüchtete Metaphern, über die man stolper, die so gar nicht stimmig sind und Worthülsen. «Jedenfalls riecht die Elbe anders als das Meer und auch anders als ein Baggersee», ist so eine. Inhaltlich konnte der Roman mich nicht wirklich erreichen, zu mäandernd, exzessiv, zu viel im Sammelbecken schwimmend. Wohin geht die Reise? Dass das Buch mit dem Tod von Margit ändert, war klar. Wenn zu viel Gemüse in der Suppe schwimmt, setzt sich kein Geschmack deutlich durch. Zu viel hier und da gefischt, irgendwie zusammengekocht, ein Einheitsbrei, bei dem mir die Tiefe zu einem Thema fehlte. Mir schien es, als hätte die Autorin alle Beobachtungen und klugen Sätze aus ihrem Notizbuch versucht in eine Geschichte hineinzuklemmen. Ein hundertjähriges Leben vollgepackt ohne das tiefsitzende Trauma – das haben die beiden anderen Figuren, und versuchen, irgendwie damit klar zu kommen. Manches passt so gar nicht hinein in diese Geschichte, wie die von Arthur, der Sprachen erfindet, von denen eine in Russland der große Hit wird. Er fährt dort hin, um seine Fans zu besuchen, wird um eine schockierende Erfahrung reicher. Sehr amüsant, meine Lieblingsszene in diesem Buch – passt nur nicht in den Plot hinein. Der Fluss zieht gemächlich seinen Weg – trotz der Haifischflossen auf dem Rücken (auch eine längere merkwürdige Beschreibung von Wellengang). Ein bisschen mehr Sturm hätte sein dürfen, der Schwung in die Strömung gebracht und das Lametta weggeblasen hätte.


Katharina Hagena, geboren 1967, studierte Anglistik und Germanistik, lehrte am Trinity College in Dublin sowie an der Universität Hamburg und lebt heute als freie Schriftstellerin in Hamburg.




Katharina Hagena 
Flusslinien 
Gesprochen von Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann, Jesse Grimm
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 11 Std. und 15 Min.
Zeitgenössische Literatur, Elbe
Argon Verlag
Kiepenheuer & Witsch, 2025, 400 Seiten 



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe