Rezension
von Sabine Ibing
Die Fletchers von Long Island
von Taffy Brodesser-Akner
Aber das Geld war wie der hohe weiße Lattenzaun um das Fletcher-Anwesen: Es versperrte den Blick. Durch den Dunst ihres Vermögens und allem, was einem dazu einfiel, waren die Fletchers nur schwer zu erkennen. Doch auf einmal - als Carl verschwunden war und auf den Straßen von nichts anderem geredet wurde - sahen die Bewohner von Middle Rock die Fletchers endlich richtig. Alles lag auf dem Tisch, und unter dem Mantel der Anteilnahme konnten die Nachbarn der Flet-chers endlich ihre Ängste wegen ihrer eigenen Finanzen und Karriere und Zukunft und Nachlässe voreinander zugeben, und spätnachts, wenn sie mit ihrem Ehepartner von Kissen zu Kissen flüsterten, kam der hässlichste Teil von ihnen hoch. Nicht: Wo ist Carl Fletcher? Oder: Sind wir in Gefahr? Oder: Hat sich die Welt verändert? Sondern: Warum nicht wir? Warum sind wir nicht reich genug, um entführt zu werden?
1980 im wohlhabenden Long Island: Carl Fletcher wird vor seinem Haus gekidnappt. Gegen die Zahlung eines üppigen Lösegeldes wird er freigelassen, und die Familie versucht, den Vorfall hinter sich zu lassen. Die Fletchers sind reich, enorm reich! Doch das Trauma hat die gesamte Familie erwischt und jeder von ihnen lebt es anders aus. Fast alle arbeiten, könnten aber auf dem hohen Niveau der Ausgaben nicht von dem leben, was sie verdienen, wenn sie nicht ihre monatlichen Tantiemen aus der Styropor-Fabrik erhalten würden. Die hatte Zelig Fletcher, ein Holocaust-Überlebender, gegründet. Doch eines Tages versiegt diese Quelle … Eine Persiflage auf die amerikanische Gesellschaft – auf die der jüdischen Reichen.
Immer noch keine Spur von Sophie. Er sah sich nach einer Gabel oder einem Löffel um. Er brauchte keinen Teller. Von dem Loch aus, das er mit dem Kuli gebohrt hatte, riss er die Plastikfolie auf. Dann formte er mit dem Zeige- und Mittelfinger eine Schaufel und schob sich klumpenweise Cheesecake in den Mund, Brocken für Brocken, als würde er mit den Fingern Hummer essen. Er hatte Cheesecake im Gesicht und auf dem Hemd, aber er konnte nicht aufhören. Als seine Mutter das Telefon an seinen Vater reichte, hatte sich Beamer den Cheesecake wie ein Hamster in die Backen gestopft, so dass er, als sein Vater sagte: ‹Ja. Bernard, hallo›, nur antworten konnte: ‹Bab. Pup mir beid begen Brimma. Pup mir bo beid.›
Auf das Familien-Trauma des Holocaust wird das der Entführung aufgesetzt. Bernard, Beamer genannt, aus der dritten Generation, von Phobien geplagt, ein Hypochonder, schluckt so alles an Drogen, was man sich vorstellen kann, geht mehrfach die Woche zu einer Domina, um sich verprügeln zu lassen. Seine Frau lässt sich für viel Geld Stück für Stück das Gesicht umgestalten. Sein erstes Filmprojekt über eine Entführung hatte damals gutes Geld eingespielt, und weil Beamer nichts Besseres einfällt, versucht er es alle paar Jahre wieder mit einem Update der Filmentführung. Doch seit Jahren steht er auf der Stelle, lebt von den Tantiemen. Sein Bruder Nathan ist schlau, Anwalt für Bodenrecht, hat sein gesamtes Geld aus der Fabrik nie angerührt, als Rücklage seinem besten Freund übergeben, der es gewinnbringend anlegt. Seine Frau, die von seiner Mutter nicht erwünscht ist, die als Nichtjüdin immer wieder in Fettnäpfen der Familie tritt, ist gerade dabei, das alte Haus, das sie gekauft hatten, völlig neu und kostenaufwendig umzugestalten. Jenny, die Jüngste, hochintelligent, ist früh aus dem Haus gegangen, hat der Familie den Rücken zugekehrt, hat ihr vielversprechendes Jurastudium abgebrochen und sich in Gewerkschaftsarbeit gestürzt. Sie verachtet das Geld und spendet ihre Tantiemen der Gewerkschaft. Ruth, die Mutter ist beschäftigt, ihren depressiven Mann, das Entführungsopfer, zu pflegen. Sie hatte diesen Mann geheiratet, um der Armut zu entkommen. Über allem thront Großmutter Phyllis, die allein in dem unermesslich großen Haus auf Long Island wohnt. Nach ihrem Tod geht alles den Bach hinunter.
Aber zwischen dem, was Nathan wusste, und dem, was er glaubte, tobte ein dunkler Abgrund. ‹Also: Diese Bäume wachsen seit Jahrhunderten›, sagte Nathan. ›Wir wissen nicht, ob sie im Innern verrottet sind. Und aus dem Inneren kommt die Stabilität. Die dafür sorgt, dass der Baum stehen bleibt und nicht umfällt.› Alyssa machte ein knurrendes Geräusch, und Nathan wollte aufhören, wirklich, aber: Geht es bei der Erziehung nicht genau darum? Die Kinder auf die Gefahren vorzubereiten, die die Welt für sie bereithält?
So lernt der Lesende zunächst alle Protagonist:innen kennen, einer schlimmer als der andere. Was macht Geld aus einem, wenn es in Massen vorhanden ist? Wie viel Verantwortung entwickelt man, wenn man stets zugreifen kann, sich keine Sorgen machen muss. «Willst du eine Geschichte hören, die schrecklich endet?» – mit diesem Satz beginnt der Roman – wir wissen ab dem ersten Satz, es wird böse enden. Taffy Brodesser-Akner zeigt uns die Protagonist:innen zunächst in ihrem Alltag, greift zurück auf den Lebenslauf. Das ist manchmal sehr ausschweifend. Sie geht hinein in die Figuren, blättert sie auf vor uns, bis ins letzte Detail, bevor sie anfängt, die Familie abzubauen. Plötzlich ist «ein Dibbuk im Getriebe». Drama Baby! Denn diese erwachsenen Kinder haben alles bekommen – nur keine Anleitung, wie man sein Leben alleine meistert. Das Buch ist mit viel Humor geschrieben, ein Grundton von Sarkasmus herrscht vor und es gibt überraschende Wendungen. Der Niedergang der Familie Fletcher, ein Drama, mit jiddischem Humor. Herrliche Dialoge, ein Seitenhieb auf die Reichen der Gesellschaft.
Versuchte man, nur eine winzige Schwachstelle in ihrem Lebensstil zu finden, nur eine Facette ihrer felsenfesten Identität als Verfolgte anzukratzen, selbst wenn man mit in der Festung saß, kam: ‹Sie haben versucht, uns auszurotten!› zischte ihre Großmutter. ‹Das Geld, dass du so hasst, ist das Einzige, was zwischen dir und der Gaskammer steht››
Taffy Brodesser-Akner, geboren 1975 als Stephanie Akner in New York City, ist eine US-amerikanische Journalistin. Sie studierte an der Tisch School of the Arts der New York University (B.A.) Im Jahr 2006 heiratete sie den Journalisten Claude Brodesser. Sie haben zwei Kinder. Sie arbeitete zunächst freiberuflich als Journalistin für GQ und The New York Times. Seit 2017 ist Taffy Brodesser-Akner Redaktionsmitglied der New York Times.
Die Fletchers von Long Island
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sophie Zeitz
Zeitgenössische Literatur, Familienroman, Satire, Amerikanische Literatur
Hardcover, 576 Seiten
Eichborn, Berlin 2025
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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