Rezension
von Sabine Ibing
Die Früchte des Meeres
von Émile Zola
Émile Zola ist einer der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, bekannt für seine sozialkritischen Bücher. Einer meiner Lieblingsschriftsteller. Hier mit humorvollen Novellen. Es ist ein Meisterwerk der Erzählungskunst und des feinen Humors. Ein Klassiker, den es sich lohnt, zu lesen.
Les coquillages de Monsieur Chabre
Aber man sei ja, wie Monsieur Chabre feststellte, nicht der Schlemmerei wegen gekommen. Er selbst rührte freilich weder die Braten noch die Soßen an. Vielmehr stopfte er sich morgens und abends mit Muscheln voll und legte dabei die Entschlossenheit eines Mannes an den Tag, der sich eine Medizin verabreicht. Das Schlimmste daran war seine tiefe Abneigung gegen jenes unbekannte und merkwürdig geformte Getier, denn er war mit der faden und sterilen bürgerlichen Küche aufgewachsen und hatte sich eine kindliche Vorliebe für Süßspeisen bewahrt. Die Muscheln überforderten seine Geschmacksnerven, und ihre gesalzene und gepfefferte Würze war von einer so unerwarteten Intensität, dass er sich beim Hinunterschlucken eine Grimasse nicht verkneifen konnte; aber er hätte, wäre es erforderlich gewesen, auch die Schalen hinunter-gewürgt, so fest hatte er sich in den Kopf gesetzt, Vater zu werden.
Monsieur Chabre, sein Gesicht «platt und gewöhnlich wie ein Bürgersteig», ein pensionierter Kornhändler ist der beleibte Gatte der schönen, jungen Estelle, die halb so alt ist wie er. Und er ersehnt sich danach, endlich Vater zu werden. Irgendwie will das nicht klappen. Als sein Arzt ihm deshalb den Genuss von Meeresfrüchten verschreibt, reist das Paar an die Atlantikküste. Der Mann hasst Meeresfrüchte, doch was tut man nicht alles, wenn die Nachkommenschaft nicht fruchten mag – voller Ekel schaufelt er sie in sich hinein. Das Paar trifft auf den jungen Bretonen Hector, der dem Paar die Gegend zeigt und unverblümt mit Estelle flirtet. Herrlich beschrieben durch Andeutungen, Blicke, zarte Berührungen, Bemerkungen. Der naive Monsieur Chabre, immer wieder abgehängt von den jungen Leuten, muss am Ende passen, seine Frau allein zur Höhlenbesichtigung ziehen lassen, allein oben auf den Felsen ausharren, während Hector und Estrelle durch die Flut abgeschnitten in einer romantischen Höhle die Ebbe abwarten müssen … Ein auktorialer Erzähler führt den Lesenden durch die Geschichte. Neben der schönen Naturbeschreibung und Bräuchen der Einheimischen genießt der Leser schadenfreudig, das Spiel zwischen Estelle und Hector; fast bedauert man die Naivität den Monsieur Chabre. Denn der ist sich sicher nach dem Urlaub: Die Muscheln haben Wirkung gezeigt. Zola macht sich lustig über Bürgertum und Spießer – was ihm wundervoll gelungen ist.
La fête à Coqueville
Es scheint sicher, dass das Dorf in grauer Vorzeit von den Mahé gegründet wurde, einer Familie, die sich dort niederließ und sich am Fuße der Klippen stark ausbreitete. Diese Mahé müssen zunächst wohlhabend gewesen sein, da sie immer untereinander heirateten, denn über Jahrhunderte hinweg findet man nur Mahé. Dann taucht unter Ludwig XIII. ein Floche auf. Man weiß nicht genau, woher er kam. Er heiratete eine Mahé, und von diesem Moment an geschah etwas Seltsames: Die Floche wurden ihrerseits wohlhabend und vermehrten sich so stark, dass sie nach und nach die Mahé verdrängten, deren Zahl immer weiter abnahm, während ihr Vermögen in die Hände der Neuankömmlinge überging. Zweifellos brachten die Floche neues Blut, kräftigere Organe und ein Temperament mit, das sich besser an diese raue Umgebung mit starkem Wind und offenem Meer anpasste. Auf jeden Fall sind sie heute die Herren von Coqueville.
Die Fischer des kleinen Dorfs Coqueville, das in einer Felsspalte liegt, leben seit zwei seit Jahrhunderten im Zwist: Die Mahés gegen die Floches. Als sich der junge Delphin Mahé sich unsterblich in Margot Floche verliebt, scheint sein Begehren aussichtslos. Aber dann fischt Delphin nach einem Sturm Fässer voll mit diversen alkoholischen Köstlichkeiten aus dem Meer, die von einem Schiff stammen, das vor der Küste gesunken ist. Das große Besäufnis kann beginnen! Im tagelangen Vollrausch ändert sich im Dorf das Leben. Hier spiegelt sich im Kleinen der Novelle das Thema der Romane von Zola wieder. Sozialkritik im Mikrokosmos, das Dorfleben als Gesellschaft, der Unterschied zwischen Reich und Arm, die Bestie im Menschen, Neid, Missgunst, Überheblichkeit, Bosheit, Aggression – im Vollrausch sind alle glücklich, sinnlich und nichts anderes zählt, betrunken sind alle gleich.
Ja, hier schnarchte ganz Coqueville; und damit sind gemeint: die Kinder, die Frauen, die Alten und die Männer. Nicht ein Einziger von ihnen war wach. Einige lagen auf dem Bauch, andere auf dem Rücken; manche hatten sich auf der Seite zusammengerollt. Wie man sich bettet, so liegt man. Die Burschen lagen so verstreut, wie die Trunkenheit sie zufällig verteilt hatte, wie eine vom Wind aufgewirbelte Handvoll Blätter. Manche Männer waren vornübergekippt, sodass der Kopf tiefer lag als die Füße. Einige Frauen präsentierten ihren Hintern. Dieses Schlaflager unter freiem Himmel strahlte die Unbedarftheit rechtschaffener Menschen aus, die es sich mit ihren Familien bequem gemacht haben; denn wo Hemmungen, da kein Vergnügen.Die Hühner waren vermutlich in den frühen Morgenstunden hinunterspaziert und hatten an den Fässern gepickt, denn auch sie lagen betrunken im Sand. Sogar fünf Katzen und drei Hunde waren zu sehen, die Pfoten in die Luft gereckt und sternhagelvoll, weil sie an den zuckertropfenden Gläsern geleckt hatten.
Émile Édouard Charles Antoine Zola gilt als einer der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts und als Leitfigur und Begründer der gesamteuropäischen literarischen Strömung des Naturalismus. Zugleich war er ein sehr aktiver Journalist, der sich auf einer gemäßigt linken Position am politischen Leben beteiligte. Sein Artikel J’accuse…! („Ich klage an…!“) spielte eine Schlüsselrolle in der Dreyfus-Affäre, die Frankreich jahrelang in Atem hielt, und trug entscheidend zur späteren Rehabilitierung des fälschlich wegen Landesverrats verurteilten Offiziers Alfred Dreyfus bei. Zolas erster bedeutender Roman war Thérèse Raquin (1867). Zola verbindet eine spannende Handlung um die Titelheldin, die zur Ehebrecherin und Mörderin wird, mit einer ungeschönten Schilderung des Pariser Kleinbürgertums. Mehrere Romane, unter anderem Der Totschläger, Nana und Germinal, wurden bald nach ihrem Erscheinen zu erfolgreichen Theaterstücken verarbeitet. Die Bestie im Menschen oder auch Das Tier im Menschen (franz. La Bête Humaine) ist ein Roman von Émile Zola. Er bildet den siebzehnten Teil des aus zwanzig Bänden bestehenden Rougon-Macquart-Zyklus. Der Roman-Zyklus stellt als eine Art Mikrokosmos verschiedene Aspekte der französischen Gesellschaft dar. Die Handlung von «Die Bestie im Menschen» trägt sich größtenteils auf der Eisenbahnstrecke zwischen Paris und Le Havre sowie im Bahnhofsbereich zu.
Die Früchte des Meeres
Originaltitel: Les coquillages de Monsieur Chabre; La fête à Coqueville
Klassiker, Novellen, Französische Literatur
Hardcover, leinenbezogen, Pocketformat, 192 Seiten
Mareverlag 2025
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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