Rezension
von Sabine Ibing
Die Familie
von Sara Mesa
Am meisten nerven mich die Leute, die als Kinder Geige lernen, Querflöte oder Klavier und dann mit zwölf, dreizehn aufhören. Einfach aufhören, keinen Bock mehr. Lieber zum Volleyball oder in den Schwimmverein gehen und später jammern, sie hätten dranbleiben sollen. Sie nerven mich, weil ich sie beneide. Sie haben ihr Instrument verkauft und einfach eine normale Jugend gehabt, und inzwischen studieren sie wahrscheinlich etwas ganz Normales und Brauchbares. Sie langweilen sich manchmal, könnten sich Besseres vorstellen, aber auch Schlechteres, darum freuen sie sich erst mal aufs Wochenende. Aber vor allem werde ich eifersüchtig, weil sie es geschafft haben, die Musik abzuschütteln, bevor sie ein Teil von ihnen werden konnte.
Wenn sie das nächste Mal wieder etwas in ihr Tagebuch geschrieben habe, könne sie es unverschlossen liegen lassen, wo immer sie wolle, auf dem Esstisch, zum Beispiel, oder in der Küche, auf der Anrichte, für alle zugänglich. ‹Niemand wird es lesen, das verspreche ich dir.› Er machte eine Pause, strich sich nachdenklich übers Kinn. ‹Eines aber solltest du bedenken. Der Wunsch, manche Dinge für sich zu behalten, ist das eine, das ist nur zu verständlich, aber Heimlichtuerei ist etwas ganz anderes. Geheimnisse sind nie gut. Im Gegenteil, sie schaden uns, sie sind bloß dazu da, hässliche Dinge zu verbergen. Warum wären sie sonst geheim? Lieber hat man nichts zu verbergen, geht erhobenen Hauptes durchs Leben und muss sich nicht verstecken.›‹Aber ich verstecke mich doch gar nicht …›‹Schön, denn, ehrlich gesagt, ich würde sehr gerne lesen, was du schreibst.›
‹Was hat er gesagt?› Camille riss theatralisch die Augen auf.‹Er hat mir eine Nachricht für dich hinterlassen, aber ich weiß nicht, ob ich ihn richtig verstanden habe.› ‹Was für eine Nachricht?›‹Ich soll dir ausrichten, dass du unbedingt anrufen sollst, du würdest schon wissen, wo. Und dass er dich jeden Tag daran erinnern wird, wenn du’s nicht machst, damit du es auf keinen Fall vergisst. Und dann hat er gesagt, jeden Tag sei nicht bloß so dahergesagt. Er würde wirklich jeden Tag anrufen und …›‹Schon gut.› Rosa wusste nicht, wie sie diesen Unsinn rechtfertigen sollte.‹Hört sich wie eine Drohung an, oder? Meinst du nicht, du solltest dich an die Polizei wenden?›‹Nein, nein, auf keinen Fall. Ich klär das schon selbst.›‹Bist du sicher, Kleine? Der Typ hat wirklich ganz schön seltsam dahergeredet. Da lief einem schon beim Zuhören ein Schauer über den Rücken …›‹Nein, wirklich nicht. Und nenn mich nicht Kleine.›
Sara Mesa
Die Familie
Originalt: La familia, 2022
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen
Zeitgenössische Literatur, Familie, spanische Literatur
240 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach, 2025
Die Familie
Originalt: La familia, 2022
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen
Zeitgenössische Literatur, Familie, spanische Literatur
240 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach, 2025
Eine Liebe von Sara Mesa
Dies ist keine Liebesgeschichte – oder etwa doch? Wenn ja, zu wem oder was? Eine junge Übersetzerin, in den Dreißigern, mietet ein klappriges Haus in einem Dorf im Landesinneren, wo sie die nötige Ruhe finden will, um ihren ersten literarischen Übersetzungsauftrag zu schreiben. Die Sprache von Sara Mesa ist schnörkellos, reduziert. Drei Kapitel – ein Dreiakter, eine griechische Tragödie. Nat gerät in eine Abhängigkeitsschleife zu einem Mann, der sie behandelt wie eine Plastikpuppe. Übergriffige Männer, Kommunikationsfehler – nicht Nein sagen können; ein Roman mit Leerstellen, der einige gesellschaftlich-moralische Fragen stellt; eine Frau auf der Suche nach sich selbst, nach dem Seil, die Glocke über sich selbst abzuzielen. Sara Mesa schafft eine dichte, klebrige, verstörende Atmosphäre. Eine feine spanische Novelle.
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Quasi von Sara Mesa

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