Rezension
von Sabine Ibing
Lázár
von Nelio Biedermann
Der erste Satz:
Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den es bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.
«Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Bereits der erste Satz macht mich ratlos. Wo ist hier der Bezug und wo war der Lektor? Das Kind mit der transparenten Haut, unter der man die Organe sehen konnte. Na gut. Auf der zweiten Seite beginnen wir mit folgendem Satz:
Das Abendessen nahm der Baron nur in Gesellschaft seiner sechsjährigen Tochter ein, die sich ganz und gar nicht über die Geburt ihres Bruders freute. Als Ida, das deutsche Kindermädchen, Ilona ins Zimmer geführt hatte, hatte diese das schrumpelige, bläulichblasse und völlig verquollene Geschöpf mit ernstem Ausdruck angesehen, die braunen Augen zusammengekniffen und trocken gesagt: ‹Es ist sehr hässlich.›
Adjektive sind die Perlen der Sprache
Wer jetzt? Die Ida oder Ilona? Adjektive sind die Perlen der Sprache, Schmuck, etwas Wertvolles, das einen Text bereichert, verfeinert, aber man kann sie auch wie Asche in einen Text hineinwerfen, Asche, die alles vergraut, Asche, die Glanz raubt, weil der Text nur noch aufgeblasen und grau daherkommt:
Doch nun musste sie essen - Ida trug schon die Speisen hinein. Sie hatte Glück, denn es gab kaum Fleisch und viel Gemüse: violett schimmernde Rüben, sattgrünen Spinat, fröhlich hellen Salat, strahlend weißen Meerrettich, gelbe, in geschmolzener Butter schwimmende Kartoffeln und leuchtende Karotten zwischen lustigen kleinen Erbsen. - Sie schaufelte sich also ordentlich auf den goldumrandeten Teller und begann zu essen, ohne auf die mechanischen Kaugeräusche des Vaters, die Lügen der Mutter oder das nervöse Schlucken des Bruders zu hören.
Abgeschrieben
Adjektivlastig, unklare Bezüge, sperrige Schachtelsätze, die wie quietschende Schubladen nur ruckelnd geschlossen werden können. Und dann hatte ich das erste Leseerlebnis: Ein wundervoller Satz über einen Suizid, der sich über zwei Seiten zieht. Gekonnt geschrieben, ein wenig adjektivlastig, versiert inszeniert, ein Satz, der berührt. Gleichzeitig klingelte eine große Glocke in meinem Kopf. Da war doch was! Klar – geklaut aus der Weltliteratur: Der Suizid von Virginia Woolf, der Prolog von «Die Stunden» von Michael Cunningham. Und der schreibt es wesentlich besser! Gleiche Szenerie, nur eine andere Landschaft, Woolf steckt sich die Steine in die Manteltasche und hier landen sie in der Strickjackentasche.
Lange Schachtelsätze
Und inhaltlich stimmt oft etwas nicht, wie der Tag, der das letzte Licht verschluckt, ein Mann wenig später aus dem Fenster auf die Entfernung auf dem Stamm eines Baumes am Waldrand in der Rinde Risse entdeckt. Das muss ein Röntgenblick sein. Kleine Fehler – mir fällt so etwas auf. Oder: «Das Kleid, das sie vom Stuhl nahm, hing im Schrank.» Und davon gibt es einige. Nichts gegen lange Sätze. Nichts gegen Schachtelsätze. Aber das muss rhythmisch klingen, eine Melodie ergeben, der Lesende muss dem folgen können, ohne den Faden zu verlieren, ohne sich zu verlieren, er muss sich schlicht an der Sprache erfreuen, nicht das Gefühl haben, er wäre gerade von Kaa der Schlange hypnotisiert worden.
Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weißen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre alles bereits eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster wieder und ging ins Bad, wo sie sich das Gesicht wusch und die Zähne putzte, dann auf die Toilette setzte und lange vergebens ausharrte, was sie mit dem unbefriedigenden Gefühl zurückließ, etwas nicht beendet zu haben, aber aus den roten Feldern ragten die weißen Hälse der Störche, weshalb sie das Bad verließ, ohne sich die Arme zu zerschneiden, ins Zimmer ging, lange überlegte, was sie anziehen sollte, hin-und hergerissen war zwischen dem grünen und dem blauen Kleid und schließlich im Nachthemd blieb, denn nun, da sie begonnen hatte, Dinge nicht zu Ende zu führen, konnt sie gleich dabei bleiben, sie setzte sich, wie sie war, an den Frisiertisch, schminkte sich die Lippen klatschmohnrot …
Dieser Satz ist noch lange nicht zu Ende! Kommen wir zum nächsten Thema.
Sex sells, sagt man
Ein einziger Blick hatte gereicht, um ihre Knochen vibrieren zu lassen.
Manche Leser meinten, es gäbe zu viele Sexszenen. Mein Gott, der Junge hat den Text mit zwanzig geschrieben. Mich hat dann eher die Sprache gestört, amüsiert – und ich fragte mich alle paar Seiten: Hilfe, wo war hier der Lektor! Blicke lassen ganz romantisch Knochen vibrieren – und der nächste Satz hat mich fast vom Sessel gerissen vor Lachen. Ein neuer Thomas Mann ist geboren. Habe ich das falsche Buch gelesen?
Ihr nackter Körper verschwand im Dunkeln weiß wie der Mond und trat auf der Insel entfleischt hervor.
(er ist sich) nicht zu schade, sein Gesicht in ihrem nur selten gewaschenen Schoß zu versenken.
… die Hügel seines Mutterlands verblassen, den väterlichen Leuchtturm schrumpfen.
Márias Körper war zu einem Symbol, zur Tempelruine einer längst erloschenen Religion geworden, während Frau Virágs Körper Stätte eines blühenden Glaubens war, dem Sándor regelmäßig huldigte, indem er in ihren feuchten Schoß stieß, mit seiner Zunge den Schmutz von ihren Fußsohlen leckte, seine Nase in ihre Achselhöhlen grub und ihren Hintern auf seinem Gesicht platzierte. Unter diesem konnte er alles vergessen.
Oh, mein Gott! Aber worum geht es eigentlich in diesem Roman, ich hätte es fast vergessen. Alles beginnt, als Lajos von Lázár, das blonde Kind mit wasserblauen Augen, und durchsichtiger Haut zur Welt kommt. Mit Lajos Geburt (gezeugt vom Stallburschen) bricht das 20. Jahrhundert an, eine Epoche, die das Leben der Barone Lázár im südlichen Ungarn für immer verändern wird. Der Untergang des Habsburgerreichs berührt erst nur ihre Traditionen, und als Lajos in den zwanziger Jahren sein Erbe antritt, scheint der alte Glanz noch einmal aufzublühen. Doch die Kinder Eva und Pista müssen erleben, wie totalitäre Zeiten ihre wuchtigen Schatten werfen und die Familie durch die Kommunisten enteignet wird, sich entschließt, aus dem Land zu fliehen. Was passiert hier eigentlich? Nicht viel, schon gar nicht irgendetwas Tiefes. Junge Leute verlieben sich, heiraten und bald ist es auch schon vorbei mit den Gefühlen füreinander. Frauen verlieben sich in gutaussehende Stallburschen, oder braungebrannte Muskelmänner, mit Augen wie schwarze Oliven, die auf dem Feld arbeiten; Männer saufen und haben eine oder mehrere Geliebte. Der ein oder andere wird verrückt. Figurentiefe? Schubladen auf, Schubladen zu. Und das alles für mich zu schwülstig.
Altbackene Sprache
Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie. Und auf ihrem Weg durch dieses alte Reich, das von einem ebenso alten Kaiser regiert wurde, auf ihrer spiralförmigen Reise durch die Felder und Wälder und Städte, hinab zu den zukünftigen Knochen, hinein in die blutroten Tiefen dieses jungen Jahrhunderts, mieden die umherstreifenden Jahre auch das Schloss der Familie von Lázár nicht.
Eine aufgeblasene Tonalität mit vielen sprachlichen Schwächen konnte mich nicht überzeugen. Ohne diese hochgehobenen Vorschusslorbeeren hätte ich gesagt: Ein Familienroman, genauso altbacken und dekadent geschrieben wie das Adelsgeschlecht, ein Erstlingswerk mit einer Menge von Fehlern, an der ein oder anderen Stelle Talent. Nette Unterhaltung – aber nichts besonderes. Wenigstens hätte mich der Roman mit seinen Figuren überzeugen müssen! Klischeehaft, fade, leer. Historisch wäre einiger Stoff drin gewesen … Ungarns «Hochzeit» mit Hitlerdeutschland wird am Rande erwähnt, die Judenverfolgung trifft einen Teil der Familie. Die Russen kommen irgendwann ins Waldschloss, die Soldaten brauchen Frischfleisch, eine Bedienstete hat sich gefälligst zu opfern. Die neue Regierung enteignet die Adelsgeschlechter und die Barone und Baroninnen müssen genauso arbeiten, wie alle anderen auch. Nur sie werden besonders fies behandelt. Das ist so ziemlich alles, was zu den geschichtlichen Ereignissen gesagt wird. Auch hier kann der Roman nicht bei mir punkten. Irgendwie passiert immer irgendwas mit irgendwem – aber eine wirklich spannende Geschichte hat sich für mich hier nicht entwickeln können; hier fließt nichts ineinander. Es wird nach dem Muster gestrickt: eins rechts, eins links, eins fallenlassen, denn Figuren werden benutzt, dann in der Ecke stehengelassen. Was ist aus dem jüdischen Strang geworden? – Fallengelassen. Szenen mittendrin beendet. Mit doppelter Länge, Figurentiefe, geschichtlichen Hintergrund, hätte es inhaltlich etwas werden können. So bin ich schockiert, dass genau so ein Buch solch Furore macht, der Autor als der neue literarische Stern am Himmel gefeiert wird. Alles Geschmack. Aber faktisch weit entfernt von Thomas Mann.
Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Großeltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich.
Nelio Biedermann
Lázár
Familienroman, Zeitgenössische Literatur, Ungarn, Schweizer Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten
Rowohlt Verlag, 2025
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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