Rezension
von Sabine Ibing
So gehn wir denn hinab
von Jesmyn Ward
Erster Satz:
Die erste Waffe, die ich je hielt, war die Hand meiner Mutter.
Was für ein fantastischer erster Satz! Annis wird in Sklaverei geboren, Vater ist der Plantagenbesitzer. Sie führt ein hartes Leben als Haussklavin, muss bereits als Kind ihrer Mutter kräftig zur Hand gehen. Als sie jugendlich ist, wird ihre Mutter verkauft, und, ein paar Jahre später auch sie selbst. Es ist ein hartes Leben auf der Reisplantage in South Carolina, aber doch etwas wie Heimat. Doch nun werden Annis und ihre Mitgefangenen angekettet zu den Sklavenmärkten von New Orleans getrieben, wochenlang rennen sie durch Regen und Kälte mit blutigen Füßen über Stock und Stein – angekettet mühen sie sich in Todesangst durch Flüsse.
Dieses Verkauftwerden. Nan und Cleo und meine Mutter haben darüber gesprochen, was es bedeutet, verkauft zu werden - das haben wir alle getan, denn wir haben Geschichten darüber gehört, Geschichten, die sich von Plantage zu Plantage, von Feld zu Feld verbreiten. Mitten durch den Sumpf, sagte der Junge, der unserem Schmied Altmetall verkaufen sollte. In Ketten durchs Wasser, sagte der Mann, der Vieh verkaufen sollte. Versengt und versunken, sagte der Hufschmied, der durch die Reisgebiete geschickt wurde, um Pferde zu beschlagen. Die Hölle, sagte meine Mutter, und mit jedem Tag marschieren mehr von uns dahin.
Auf einer Zuckerrohrplantage schuftet Annis bis zum Umfallen. Jeder Funke von Widerstand wird hart bestraft. Wegen einer Kleinigkeit werden die Sklaven ausgepeitscht, ins Loch gesteckt. Auch Annis muss das erleben, zehrt in der schlimmen Zeit von der Liebe ihrer Mutter, die sie immer im Herzentragen wird, und sie spricht mit ihrer Großmutter Aza, einer afrikanischen Kriegerin, die ihr als Geist erscheint. Annis schöpft Kraft aus den Zwiegesprächen mit Aza, um sich aus der Sklaverei zu befreien. Denn auch sie ist eine Kriegerin.
‹Diese Stadt ruft so laut nach mir wie du und deine Reihe. Sie besteht förmlich aus Flehen. Aus Gebeten. Aus Verlangen›, sag Aza. Sie ist größer geworden, sodass ich jetzt zu ihr hochschauen muss, der Sturm wütet unterhalb ihres Gesichts. ‹Stadt der Leber den, Stadt der Toten, Stadt für alle dazwischen.› Wolken wallen über ihren Mund, ihre Wangen, ihre Augen; sie ist eine Säule aus Sturm, und ich höre nichts als ihre Stimme. ‹New Orleans.›
Ein Gedanke an Flucht nimmt immer konkretere Gestalt an. Ein wortgewaltiger, lyrischer, wie brutaler und gleichzeitig zärtlicher Roman, der ein Leben in der Sklaverei beschreibt. Kollektive Gewalterfahrung über Generationen versetzt Annis in Trance, sich aus ihrem Körper herauszudenken, Unertragbares zu ertragen. Auch sie ist eine Kämpferin; und sie nimmt sich vor, diesen Krieg zu gewinnen. Mit sprachlicher Schönheit stößt uns Jesmyn Ward in die Realität der Sklaverei. Geboren in der Hölle, rechtlos gelebt, verkauft ins Reich des Teufels, gequält – und die Gewalt nimmt durch die neuen Besitzer kein Ende. Das System der Sklaverei, das die USA und Europa reich gemacht hat, besticht durch menschliche Erniedrigung, Rassismus, Ausbeutung. Die Autorin nimmt den Charme von «Vom Winde verweht», den netten Herrschaften, die ihren Sklaven freundlich entgegentreten. Den ein oder anderen mag es gegeben haben – doch das hier, ist eher die beinharte Realität.
Wir jäten, bis die Sonne dem Tag alle Farbe entzieht und die Nacht sich über den Himmel ergießt. Danach spülen wir Schlamm, Kies und glitschige Unkrautfetzen von unseren Gesichtern, Armen und Händen, ehe wir der Frau, die nichts isst, und dem Mann, der mehr als seinen Teil isst, das Abendessen servieren. Der Mann zittert während der gesamten Mahlzeit, klappert laut mit Löffel und Gabel. Auf dem Weg zwischen Küche und Esszimmer, beim Abräumen und Servieren der Gänge, reicht Esther mir den noch vollen Teller der Lady, und ich schlinge das übrig gebliebene Essen so schnell herunter, dass ich aufstoßen muss. Wir räumen den Tisch ab, schlagen ihre Betten auf, putzen die Kaminroste und füllen Holz nach, legen Kleidung zurecht, und die ganze Zeit umfängt mich die Erschöpfung wie ein knotiges Fischernetz, zieht mich zu meinem Lager in der Vorratskammer, aber dort kann ich nicht einschlafen.
Jesmyn Ward bezaubert mit ihrer Sprache und dem Zauber der Magie, den sie in ihre Geschichte hineinlegt. Sie baut eine Geisterwelt auf, in die ihre Protagonisten sich flüchten kann, sich Stärke ziehen. Eine Großmutter, die sie beschützt, sie leitet, berät. Denn Annis hat man alles genommen; der Vater, ein brutaler Plantagenbesitzer, die Großmutter verkauft, die Mutter verkauft, die Freundin genommen. Doch Aza wacht über sie. Eine Geschichte, die mit afrikanischen Mythen durchzogen ist – eine inhaltliche und sprachliche Balance zur wilden Realität des Sklavendaseins. Das ist hohe Kunst. Sie erspart dem Lesenden nicht die Bestialität der Weißen gegenüber den Schwarzen – aber sie dämpft sie lyrisch ab, gibt ihrer Figur Mut, stark daraus hervorzugehen. Ein Roman, der berührt, der die Geschichte der Südstaaten in den Mittelpunkt stellt, völlig unverblümt. Ein Buch, das gerade jetzt in die Zeit passt. Empfehlung!
Autor: Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Jesmyn Ward ist die erste Frau und die erste Afroamerikanerin, die zweimal mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, dem National Book Award, ausgezeichnet wurde: für Vor dem Sturm (Kunstmann, 2013) und für Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (Kunstmann, 2018). Sie erhielt außerdem u.a. den MacArthur Genius Grant und den Library of Congress Prize for American Fiction. (Quelle: Kunstmann)
Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten
Antje Kunstmann Verlag
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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