Rezension
von Sabine Ibing
Quasi
Quasi
von Sara Mesa
Der erste Satz: Beim ersten Mal ist sie so überrumpelt, dass sie bei seinem Anblick zusammenzuckt.
Von außen ist das Versteck zwischen Büschen und Bäumen nicht zu sehen. Hier hockt eine Schulschwänzerin, verbringt den Tag. Plötzlich steht ein Mann vor ihr – sie nennt ihn den Alten – er mag Anfang 50 sein – er ist ziemlich distanzlos. Zuerst ist das Mädchen erschrocken und zeigt sich reserviert, man spricht nicht mit fremden Männern … Am nächsten Tag kommt er wieder, erzählt Quasi etwas über die Vögel aus der Region und spielt ihr Musik von Nina Simone vor. Zunächst fühlt sich das Mädchen ihn ihrem persönlichen Versteck gestört – ihr Wohnzimmer – doch dann gefällt ihr die Gesellschaft. Ihr anfängliches Desinteresse an Vögeln weitet sich zum Wettstreit zwischen den beiden aus. Sie kommen jeden Tag zusammen und eine Freundschaft entsteht. Er fragt sie, wie alt sie sei, und sie antwortet »quasi vierzehn«. Er tauft sie Quasi.
Zwei Außenseiter
Etwas stimmt nicht dem Mann, der nicht arbeiten geht, sich im feinen Anzug – sehr altertümlich gekleidet – im Park herumtreibt. Manch ein Leser mag Missbrauchsgedanken gehabt haben, die Sprache und das Handeln erinnerten mich eher an eine mentale Retardierung oder an einen Psychotiker unter Tabletten. Und richtig, er erklärt dem Mädchen, er will nie wieder in die Klinik zurück. «Warst du krank?», fragt Quasi, worauf der Alte antwortet: «Das haben sie behauptet.» Quasi mag die Schule nicht. Es liegt nicht daran, dass sie mit dem Pensum nicht mithalten kann, sondern im allgemeinen Unwohlsein. Sie hasst Gruppenarbeit – und davon gibt es jede Menge. Sie fühlt sich hässlich und unbeholfen, versucht, ihren Körper unter Kleidung in Übergröße zu verstecken. Und in der Klasse gibt es eine, die hat was zu sagen – nennt sie Brotgesicht! – Leider ist der spanische Titel «Cara de Pan» – Brotgesicht – nicht übersetzt als Titel verwandt worden.Genau wie sie – wie Quasi – glaubt er, dass es gut ist, sich die Dinge selbst beizubringen, wozu soll man in die Schule gehen und sich von jemandem erzählen lassen, was in den Büchern steht?
Ein Kammerspiel zwischen Büschen im Park
Stück für Stück legt Sara Mesa ihre Protagonisten frei. Zwei Außenseiter, die sich anfreunden. Zwei Tabuthemen greift die Autorin auf: Eine Freundschaft zwischen einer pubertierenden Vierzehnjährigen und einem Mann um die Fünfzig. Tabu? Bei allen Eltern würden die Alarmglocken im Feuermodus bimmeln, wenn sie hörten, ihre Tochter trifft mit einem um die Fünfzig hinter Hecken im Park … Das andere Tabu, das sie bricht, ist der Umgang mit Behinderten. Wie weit wollen wir sie in unser Leben einbinden? Ein Kammerspiel zwischen Büschen im Park, eine feine Geschichte, zweideutig, dreideutig, auf jeden Fall lesenswert.Die Herren und Frauen Moralwächter (in der Klinik) berufen sich bei ihren Diagnosen immer nur auf irgendwelche Familiengeschichten, mehr fällt denen nicht ein!
Sara Mesa, 1976 in Sevilla geboren, wo sie bis heute lebt. Sie hat mehrere preisgekrönte Romane und Erzählungen sowie Essays geschrieben, die sie zum Shooting Star der spanischen Gegenwartsliteratur machten. Ihr vierter Roman »Quasi« schaffte es 2018 auf alle Bestenlisten in Spanien, innerhalb kürzester Zeit wurden die Übersetzungsrechte in ein Dutzend Länder, darunter die USA, verkauft.
Sara Mesa
Quasi
Original: Cara de Pan, 2018
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen
Roman
Wagenbach Verlag, 2020
144 Seiten, Klappenbroschur
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