Rezension
von Sabine Ibing
Lügen, die wir uns erzählen
von Anne Freytag
Der erste Satz:‹Dann bist also jetzt du das Opfer?›, frage ich. ‹Weil ich dich seinetwegen nicht verlassen habe?›
Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Helene verkauft das Haus, das sie nie gemocht hat – eigentlich war das Traumhaus von Georg gewesen.
Der Abschied tut weh, und er war überfällig. Weil jede Entscheidung besser ist, als keine zu treffen. Selbst wenn man sich gegen den anderen entscheidet. Denn vielleicht entscheidet man sich damit endlich für sich.
Helene kauft sich eine renovierungsbedürftige Hütte im Grünen mit großem Garten und macht sich mit ihrem Sohn an die Arbeit. Die Tochter bleibt bei Georg, zickt mit der Mutter – der Sohn hasst den Vater. Die Kinder haben ihren eigenen Kopf – und schon gibt es Ärger zwischen den Eltern. Und da ist die übergriffige Mutter von Helene, die ihr Leben bestimmt hat … Helene arbeitet in einem Verlag als Lektorin und Programmleiterin, kann eine Menge Arbeit von zu Hause erledigen. Sie blickt zurück auf ihr Leben. «Ein endloses Was-wäre-wenn?, ein tiefes Bedauern.» Was wäre gewesen, wenn sie sich damals für Alex entschieden hätte? Hat sie Georg jemals wirklich geliebt? Alex und sie sind stets Kontakt geblieben, ist er ihre große Liebe? Zwischen den Problemen im Jetzt und den Erinnerungen gleitet der Roman hin und her. Und das Bild wird immer klarer.
Ich sollte Mariam nicht stalken, aber ich kann nicht anders. Wie bei einem Mückenstich, den man anfängt zu kratzen, und dann ist man im Wahn.
Auf der einen Seite ist der Roman ziemlich humorvoll, z.B. wenn Helene Georg erklärt, dass sie das Haus verkauft hat und die Kinder nun bei ihm und Mariam einziehen werden – der arme Georg hat hier einiges wegzustecken … Auf der anderen Seit gibt es eine Menge Tiefgang, wenn es um Mutter-Kind, Vater-Kind-Verhältnisse geht. Die Entdeckungsreise ins Innere, über das, was man sich vorgemacht hat, Missverständnisse, Dinge, die an einem über Jahre nagen, weil man sie nicht angeht, sie stattdessen tief im Keller versteckt. Berührend sind die Metaphern, die Anne Freytag benutzt. Endlich mal wieder eine Schriftstellerin, die mit Metaphern nicht nur spielt, sondern sie auch gekonnt einsetzt. Jede Figur macht hier eine Veränderung durch, die sie prägen wird. Eine Geschichte, aus dem Leben gegriffen, eine die eine Familie durchrüttelt. Herrlich geschrieben, Gefühle herausgehauen und auf den Prüfstand gelegt.
Georg und ich haben uns im Laufe der Jahre aufgebraucht. Wie eine Tube Zahnpasta, die man bis auf den letzten Rest ausgequetscht hat. Und dann waren wir leer. Liebe kann man nicht nachkaufen. Wenn sie weg ist, bleibt nur die beißende Erinnerung daran, wie es war, als es sie noch gab. Wie an jemanden, der gestorben ist.
Aber es geht auch um ein Frauenbild, eine Ehe, die, so scheint es anfangs, kinderlos bleiben wird. Eine Frau auf dem Sprung … und dann ist sie schwanger, versucht Muttersein, Arbeit und Haushalt unter einen Hut zu bringen. Ein Schrei-Baby, ein aufstrebender Anwalt, eine aufstrebende Karrierefrau und ein weiteres Kind. Ein schickes Haus mit geleckter Einrichtung, ganz standesgemäß. Helene musste immer funktionieren, für ihre Mutter, für ihren Mann, für ihre Kinder, für den Verlag. Hat sie sich jemals gefragt, was sie selbst wirklich will? «Als hätte eine einzige Unterschrift mich zum Eigentum eines anderen gemacht.» Sie hatte Georg geheiratet, sich für diesen Weg entschieden. Aber «Ich ließ Alex nicht los, vielleicht weil ich nicht wusste, wie. Als hätte ich immer an ihm festgehalten, solange ich ihn kannte, über Landesgrenzen und Jahre hinweg.» Dieses ganze Konstrukt blättert sich auf – und auch Georg gesteht, er hätte die ganzen Jahre gespürt, das irgendetwas zwischen ihnen steht. Gefühle werden ausgesprochen und hinterfragt. Auch wenn es am Ende etwas dick aufgetragen ist mit den Selbsteingeständnissen, ist der Roman sehr lesenswert. Lügen, die wir uns erzählen – eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!
Es ist beeindruckend, wie gut man sich in Kleidung und hinter Make-Up verstecken kann. Wie glücklich zwei unglückliche Menschen aussehen können. Wir hätten mich auch überzeugt – eine perfekte Lüge mit lächelnden Gesichtern.
Anne Freytag hat International Management studiert, ist pünktlich zur Wirtschaftskrise fertig geworden, hat über einhundert Bewerbungen geschrieben, keinen Job gefunden, eine Weile in einer Boutique gearbeitet, sich arbeitslos gemeldet, zur Grafikdesignerin umgeschult, sich als Quereinsteigerin mit mieser Bezahlung in diversen Agenturen anstellen lassen und ist dann endlich ihrem Traum nachgegangen: Seit 2013 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Für ihre Jugendbücher wurde sie mehrfach für Literaturpreise nominiert (u.a. zwei Mal in Folge für den Deutschen Jugendliteraturpreis) und damit ausgezeichnet (u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur). Anne Freytag lebt und arbeitet in München. Lügen, die wir uns erzählen ist ihr literarisches Debüt
Anne Freytag
Lügen, die wir uns erzählen
Zeitgenössische Literatur, Familiengeschichte
Hardcover, 384 Seiten
Kampa Verlag, 2024
Lügen, die wir uns erzählen
Zeitgenössische Literatur, Familiengeschichte
Hardcover, 384 Seiten
Kampa Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman

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