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Mythos Nationalgericht von Alberto Grandi - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Mythos Nationalgericht von Alberto Grandi

Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche


Die italienische Küche ist noch keine fünfzig.

Weltweit gilt die italienische Küche als Inbegriff von Genuss und kulinarischer Perfektion. Aber seien wir ehrlich: Seit wann gibt es Italien? Italien lag früher mal im Norden, so wie wir es kennen, existiert es seit dem 17. März 1861. Ein Professore aus Parma hat nun den kulinarischen Mythos der italienischen Küche zerstört. Die Familienrezepte, die die Frauen seit Jahrhunderten weitergaben, untergraben. In Italien schrie man auf! Ein Verräter, ein Nestbeschmutzer! Dazu noch einer aus Parma, dort, wo Parmesan, Prosciutto, Aceto balsamico, Tiramisu ansässig sind, beweist, das diese weniger italienisch sind, als man bisher angenommen hat. Aber darf man das auch laut sagen? Er ist Wissenschaftler. Italienfood besteht doch aus Regionsküche! Klar, aber wer so arm war, dass er nichts zu essen hatte, konnte auch keine Kochkultur entwickeln. Wer damals Pasta und Pizza gehabt hätte, der hätte nicht nach Amerika auswandern müssen – sagt der Professore. 


Pasta eher unbekannt


Doch die breite Verfügbarkeit dieses Getreides (Mais) führte dazu, dass immer größere Massen von Verzweifelten sich völlig einseitig ernährten, was ein neues Problem schuf: eine Mangelerkrankung namens Pellagra, an der um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa ein Drittel der venezianischen Landbevölkerung litt.

Es gab eine gute italienische Küche während des Mittelalters und der Renaissance, bereitgestellt für den Adel und andere Betuchte, aber die hatte im 17. Jahrhundert aufgehört zu existieren, so die Recherchen - die Armen, die Mehrheit, aßen sowieso immer nur das, was sie gerade bekommen konnten. So baute man in der Po-Ebene Mais an, der nahrhaft und günstig war, um das Hungerproblem zu lösen. Damit entwickelte sich das nächste Problem: Mangelernährung. Denn es gab eben nur Polenta zu essen, Mais mit Wasser. Unter der langen französischen Besetzung setzte sich die deftige französische Küche durch, Lasagne, Ravioli und Pasteten fielen ins Vergessen. Wie sieht es mit Pasta und Pizza aus? Pizza ist keine italienische Erfindung, Pita, Pitta, Pida, Piada, Teigscheiben mit was drauf oder aufgeschnitten mit was drin, gibt es überall am Mittelmeer. Ich selbst habe es in den 70gern und 80gern erlebt, Pizzerien gab es in Deutschland an jeder Straßenecke – in Italien war Pizza relativ unbekannt, eher in Urlaubsgebieten zu finden, und nicht besonders gut gemacht. Klar, die kam ja aus New York nach Europa! Pasta, eher eine süditalienische Sache, Streetfood, Pasta mit Käse drauf, mit der Hand gegessen. Drum bezeichnete man die Sizilianer unflätig als auch Maccheronifresser. In Mittel- und Norditalien war Pasta eher unbekannt, man aß sie als Einlage in Brühe. Mit der Entstehung Italiens entstand dann 1891 das erste italienische Kochbuch, bei dem die Regionalrezepte zusammengeschummelt wurden, um eine nationale Identität zu kreieren. 475 Rezepte umfasste die «La Scienza in cucina»; die Auflage 1911 hatte bereits 790 Rezepte, und die ersten alleinstehenden Pastagerichte mit Soßen.


Herkunft schlicht erfunden 


Bevilaqua beginnt sogar noch vor den Römern, und wenn man ihn nicht gebremst hätte, hätte er sicher auch Ötzi noch erwähnt, den ersten Sternekoch Italiens, denn schließlich hatte der kurz vor seinem Tod noch Hirsch und Steinbock zubereitet und gegessen.

Nichts ist den Italienern so heilig wie die prodotti tipici, die regionalen Spezialitäten, die anerkannten Siegel wie DOC oder DOP. Exportschlager wie Parmigiano Reggiano, Prosciutto di San Daniele oder Dolcetto d’Alba werden als nationales Kulturgut gehandelt. Alles Show! Kaum ein anderes Buch erhitzte die italienischen Gemüter daher so sehr wie die Erkenntnisse des in Parma lehrenden Wirtschaftshistorikers Alberto Grandi: Die viel gehypte Authentizität italienischer Produkte sei vor allem auf geschickte Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie in den Siebzigerjahren zurückzuführen, Produkte, deren angeblich uralte Herkunft schlicht erfunden ist. Parmesan, wie er früher hergestellt wurde, bekommt man mittlerweile nur noch in Wisconsin. Alberto Grandi brachte damit das nationale Selbstverständnis seines Landes ins Wanken, die Empörung reichte bis in die Regierungskreise und über die Landesgrenzen hinaus. Hier ist die Antwort, warum Nationalismus manchmal auch auf dem Teller beginnt.


Auch Michelangelo musste herhalten


Die italienische Küche in Amerika entstand einerseits aus Lebensmitteln, von denen die Ausgewanderten hatten nur träumen können, andererseits aus der Fusion regionaler Essgewohnheiten, die in der Heimat nie zusammengetroffen wären. … So entdeckten die Italiener in Südamerika das Fleisch, Nordamerika Eier, Milch und Käse. Die Landbevölkerung Süditaliens wurde erst in Amerika zu Nudelessern.

1875 – 1900 wanderten circa Achteinhalb Millionen Menschen von Italien nach Amerika aus, arme Schlucker, die nur Hunger kannten. Erst in Amerika entstand eine Pastatradition, die die Auswanderer mit Briefen und Besuchen ins Heimatland brachten, sie sendeten Geld an die Verwandten, sie nun nicht mehr hungern mussten. Klar, was Mode ist, setzt sich durch. Selbst Spaghetti Carbonara wurde in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden – Eier mit Speck. Dazu kommen Erfindungen der Lebensmittelindustrie, «aggressives Marketing» und Herkunftsschwindel bei Weinen, Schinken und Tomaten, wie Prosciutto di Parma oder Rosso Colli di Parma, Bezeichnungen wie DOP oder DOC, so der Autor. An den Kragen gehts dem Parmesan Reggiano und Grana Padano, den es dem Ursprung nach heute nur noch in Wisconsin gibt (klein, weich, fettig und außen schwarz), dem Lardo di Colonnata, einem Speck aus Carrara, den schon Michelangelo bevorzugt haben soll, Dolcetto-Wein, oder die sizilianischen Pachino-Tomate, die nämlich 1989 «in Israel das Licht der Welt erblickte» und der Marsala stammt ursprünglich aus England. Marketing: Die Bedeutung des Specks begann in den 90ern mit guter Werbung. Michelangelo kaufte in Carrara seinen Marmor. Fleisch war damals im Preis noch unerschwinglich. Aber warum nicht, der Bildhauer könnte dort Speck gegessen haben. Vielleicht hat er sogar gesagt, er schmecke ihm. Kann ja keiner mehr nachprüfen – fürs Marketing ein guter Werbegag.


Wer hat's erfunden?


Ich versuche also, die Geschichte der italienischen Küche so zu erzählen, wie es sich eigentlich gehört, möglichst ohne Mythen und Legenden; schließlich handelt es sich ja nicht um Götter des Olymps, sondern um das uralte Menschheitsproblem, den Bauch vollzukriegen, und es lässt sich einfach kein realer historischer Grund denken, warum die Bevölkerung des Landstrichs, den wie heute Italien nennen, dies besser als andere Völker der Erde hingekriegt haben sollte (ich würde sogar das Gegenteil behaupten ...)

Was man heute als authentische italienische Küche bezeichnet, ist eine wundervolle Marktstrategie der Siebziger und Achtzigerjahr, die hervorragend funktioniert hat. La cucina de povero ist der derzeitige Hype – für mich die gleiche Erfindung. Ich glaube nicht, das wir von morgens bis abends Polenta in verschiedenen Stufen von Brei nach brotartig essen wollen, oder schlichte Maccheroni mit der Hand essen mögen (wer es sich leisten kann, mit Parmesan obendrauf). Interessant ist die Geschichte des jungfräulichen Olivenöls. Absurdistan bei der Focaccia. Und das Tiramisu stammt aus den 80ern, die Tortelini aus den 70ern. Wie gesagt, die Pastafresser entwickelten sich in Amerika, klar, italienische Einwanderer, die die Pasta nach Hause trugen. Maccheroni gab es auf Sizilien bereits länger, von den Arabern eingeführt. Die Tomate, so wissen wir, stammt aus Südamerika, ebenso die Tomatensoße aus der Gegend von Mexiko. Die brachten die Spanier mit nach Hause, das Rezept als Grundlage für alles, als Tomate frito bald industriell vermarktet. Die Araber hatten damals Sizilien besetzt, entdeckten die Soße auf der iberischen Halbinsel, die sie importierten, dann selbst Tomaten anpflanzten und selbst die Soße herstellten, damit ihre Maccheroni nicht mehr so trocken waren. Schmadder in der Hand – so wurde vom König die dreizackige Gabel erfunden. Wenn also heute Nonnas die Kochtechniken ihrer Nonnas präsentiert, die diese wiederum von ihren Nonnas erhalten haben, dann ist das mit Augenzwinkern zu betrachten. 


Unterhaltsam und humorvoll

Ein Hoch auf die italienische Küche! Egal, wer es erfunden hat – sie ist einfach wunderbar! Klasse zu lesen, herrlich humoristisch, wenn man Identität nicht allzu ernst nimmt. Die Menschen wandern und wandeln sich, kultureller Austausch ist etwas ganz Normales. Heute ist asiatische Küche im Trend, Vegetarisches, man bestellt Bowles, anstatt gemischtem Salat – wer bestellt heute noch Toast Hawai, Bihunsuppe oder Mockturtel-Suppe? Kennt das überhaupt noch jemand? Klassiker aus meiner Jugend. Trends kommen und gehen. Hauptsache es schmeckt! Die italienische Küche in diesem Sachbuch unterhaltsam und humorvoll seziert, die Krone geraubt – und viel Spaß bei den «wahren Konquistadoren der Schokolade von Modica! Empfehlung!


Alberto Grandi ist Historiker an der Universität Parma. Er forscht zur Wirtschaftsgeschichte Italiens und hat mehrere Bücher über die Herkunft italienischer Speisen geschrieben. In seinem Podcast DOI (Denominazione di origine inventata, erfundene Herkunftsbezeichnung) spricht er über Mythen und das Verhältnis seiner Landsleute zum Essen.



Alberto Grandi
Mythos Nationalgericht
Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche
Originaltitel: Denominazione di origine inventata
Aus dem Italienischen übersetzt von Andrea Kunstmann
Sachbuch, Italinische Küche, Kulinarisches
Hardcover Leinen, 256 Seiten
Harper Collins, 2024




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Kochbücher, Backbücher und alles rund um Lebensmittel findet sic kompakt auf dieser Seite. Auch Genussromane, soweit ich welche lese. Schleckermäulchen also hierher klicken:


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