Direkt zum Hauptbereich

Hold still von Nina LaCour - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Hold still 


von Nina LaCour


Der Anfang: 
Das Tagebuch der besten Freundin ist tabu. Es sei denn, diese Freundin hat sich das Leben genommen und das Buch unter deinem Bett versteckt. Dann musst du es lesen. 
Am Abend hatte Ingrid noch gesagt: «Ich werde immer da sein, wo du auch bist, Caitlin.» Am nächsten Morgen war sie fort. Für immer. Ihre beste und einzige Freundin hat sich umgebracht. Caitlins Welt bricht auseinander und ihr Herz gleich mit. Warum hat sie nicht gemerkt, dass es Ingrid so schlecht geht? Warum hat Ingrid nicht mit ihr geredet? Dafür sind Freunde doch da: Sie verstehen, was Eltern nicht verstehen.

Ingrid hat Suizid verübt. Die Familie, die Freunde, alle sind schockiert. Warum hat niemand gemerkt, wie schlecht es ihr geht? Auch Caitlin macht sich Vorwürfe. Sie ist ihre beste Freundin und hätte etwas merken müssen, oder? Sie ist völlig von der Rolle, und dann findet sie auch noch Ingrids Tagebuch unter ihrem Bett. Ingrid muss es mit Absicht dort hinterlassen haben, damit sie es liest. Jeden Tag nur ein Kapitel, nimmt sich  Caitlin vor. Vielleicht wird sie am Ende verstehen, weshalb Ingrid nicht mehr leben wollte. 


Ich sehe den Wassertropfen zu, wie sie von meinen Haarspitzen perlen. Sie rinnen am Handtuch entlang und bilden eine Pfütze auf dem Sofakissen. Mein Herz klopft so laut, dass es in meinen Ohren dröhnt. ‹Schätzchen. Hör mal.› Mom spricht Ingrids Namen aus.


Als die Schule im Herbst wieder beginnt, ist Caitlin das erste Mal ohne Ingrid dort. In ihrer Wut, in ihrer Trauer, ist es derzeit nicht einfach für andere Menschen, mit Caitlin umzugehen. Sie fühlt sich «verloren, allein und unsichtbar». Ingrid und Caitlin liebten es, zu fotografieren, und sie hatten in der Schule einen Kurs belegt. Doch die Lehrerin benimmt sich der 16-jährige High-School-Schülerin nun gegenüber anders als früher. Warum nur? Es muss mit Ingrid zu tun haben. Hätte Caitlin der Freundin helfen können? «Wenn sie mir gesagt hätte, warum sie sich dauernd ritzt oder dass sie wegen der Tabletten immer so weggetreten war oder dass sie überhaupt Tabletten genommen hat oder beim Arzt war oder irgendwas davon, dann hätte ich ihr nach besten Kräften geholfen.» Das Leben muss weitergehen und Caitlin muss sich neu orientieren – ganz ohne Ingrid. Aber genau das fällt ihr schwer. Sie liebt Holzarbeiten, will sich ein großes Baumhaus bauen. Dylan, die Neue in der Klasse, ist an ihr interessiert. Aber sie wird Ingrid nie ersetzen können! Geht das überhaupt, eine neue Freundin zu haben?

Ich stürze zu meinem Schrank und halte Ingrids Tagebuch so, als wäre es zu heiß zum Anfassen. Ich zerre alle Klamotten aus dem Wäschekorb, lass das Tagebuch reinfallen und stopfe die Sachen wieder rein.

Ein Roman, der zeigt, wie man mit Verlust umgeht, dass es ein Licht am Ende der Trauerphase gibt. Ich selbst habe es in meiner Jugend erlebt, dass wir einen Freund aus unserer Mitte in den Suizid verloren hatten und alle drum herum sich fragten, warum wir die Depression nicht wahrgenommen hatten. Und jeder machte sich Vorwürfe, es nicht gemerkt zu haben. Depressionen kann wahrscheinlich nur der wirklich verstehen, der sie selbst hat. Meistens bekommen die Menschen drum herum nichts mit, wenn der Betroffene nicht darüber redet. Das Tagebuch hilft Caitlin, die Gefühle von Ingrid wahrzunehmen und Ingrid erklärt, dass niemand ihr hätte helfen können, dass alles ok ist, wie es ist. 


Ich versuche brav zu sein und nehme all die Pillen, die meine Mutter mir ständig verabreicht, aber ich werde davon ganz rammdösig und kann nicht mehr klar denken. Jayson ist heute nicht in Bio. Eigentlich ist alles total überflüssig. Ich bin total überflüssig.   
In Liebe Ingrid


Ein Jugendroman über die Trauer, wenn ein geliebter Mensch geht. Caitlin macht einige Phasen durch und findet eine neue Freundin und einen Freund. Ingrid wird in der Erinnerung bleiben, auch die Trauer hat ihren Platz, doch Caitlin findet zurück ins normale Leben, lernt, mit ihrer Trauer umzugehen. Empathisch geschrieben befasst sich Nina LaCour mit diesem Thema und mit Depression. Ein realistisches Jugendbuch über Freundschaft, Verlust, Trauer und das Erwachsenwerden. Der Fischer Sauerländer Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 14 Jahren. Dem schließe ich mich an. Ein klasse Jugendroman, Empfehlung!


LIEBES HEUTE,   
ich lebe dich und tu so, als wäre ich okay, obwohl ich das nicht bin, ich tu so, als wäre ich glücklich, obwohl ich das nicht bin, ich tu so, als wäre alles okay für alle.   
In Liebe Ingrid



Nina LaCour ist Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur an der Hamline University in Saint Paul und unterrichtet Kreatives Schreiben. Früher arbeitete sie in einem unabhängigen Buchladen und war Lehrerin für Englisch an einer High School. Sie lebt mit ihrer Familie in San Francisco, USA.





Nina LaCour
Hold still
Mia Nolting Illustratorin
Aus dem amerikanischen Englischen übersetzt von Nina Schindler 
Jugendbuch, Coming of Age Roman, Suizid, Depression, Erwachsenwerden, Verlust und Trauer  
Taschenbuch, 320 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag, 2024
Altersempfehlung: ab 14 Jahren 



Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck