Rezension
von Sabine Ibing
Feuerwanzen lügen nicht
von Stefanie Höfler
Reime sind wie gesprochene Musik, finde ich: Wortmusik. Beim Reimen kommt dein Kopf in einen irren Rhythmus, das ist, als würdest du mit dem Gehirn tanzen. Und ist es nicht logisch, dass jemand mit einem hibbeligen Hintern auch ein tanzendes Hirn hat?
Mischa und Nits sind beste Freunde. Der begabte Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – ihm erzählt er, die Badehose sein von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken. Nits lässt nicht locker, und so darf er das erste Mal die Wohnung seines langjährigen Freunds betreten. Mischa wohnt mit seinem Vater und seiner kleinen Schwester Amy in einer beengten Wohnung, die mehr als spärlich möbliert ist. Und in diesem Zug bekommt er auch mit, dass die Familie Lebensmittel bei der Tafel bezieht.
Die Mutter forscht im Urwald nach unbekannten Tieren
Mist mit dem Schwimmen«, murmelte Mischa auf dem Heimweg. Das war seltsam, denn Mischa beschwert sich normalerweise nie über die Schule, er liebt Mathe, Deutsch, Englisch, Musik und am allermeisten Bio, aber auch Sport. Mischa ist nicht nur an allem interessiert, sondern zusätzlich rundumschlagtalentiert.
Eine Geschichte, die Armut zum Thema hat. Doch das ist gut verpackt als Unterthema, läuft ganz beiläufig mit. Nits Familie hat stets einen vollen Kühlschrank, die Wohnung ist groß und niemand muss sich finanzielle Sorgen machen. Nits Bruder wechselt ständig sein Sporthobby und mistet gerade aus, hat einen großen Karton mit Sportkleidung und -equipment zusammenbekommen – Zeugs, das er nicht mehr benötigt. Nits fragt sich, warum seine Familie so viel Überfluss hat und Mischas Familie nicht mal das Allernötigste. Was ist eigentlich mit der Mutter? Mischa erzählt, sie sei Biologin und forsche im Urwald. Nits hat sie noch nie gesehen. Mischas Vater ist ein cooler Typ. Er kann klasse Geschichten erfinden, kann mit Bällen jonglieren und manch andere Zirkusnummer. Nur findet er selten Arbeit und wenn er einen Job hat, wechselt er in der nächsten Woche in eine andere Firma. Und nun ist er verschwunden, untergetaucht. Er steckt in argen Schwierigkeiten. Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden. Und da ist noch die Frau vom Jugendamt, die es auszutricksen gilt.
Muss man sich für Armut schämen?
Lügen ist einfach nur träumen, wie es auch sein könnte. Oder wie es eigentlich sein sollte.
Wann darf man lügen? Eigentlich gar nicht. Aber Mischa meint, auch «um sich selbst zu schützen, vor etwas Schlimmem womöglich.» Die Geschichte mit der Biologin im Urwald hat Mischas Vater erfunden – die Mutter hat schlicht die Familie verlassen. Mischa kann sich kaum an sie erinnern, Amy gar nicht. Allerdings kamen immer klasse Briefe mit Urwaldgeschichten zu Hause an, die Papa geschrieben hat. Und man konnte mit der Mutter über ein Rohr morsen. Natürlich glaubt Mischa dieses Märchen schon lange nicht mehr. Aber er traut sich auch nicht, zu den Vater zu fragen. Amy glaubt noch dran, und das ist gut so für Mischa. Eine spannende Geschichte mit einem tiefgreifenden Nebenstrang, der Armut. Sehr fein sind die Dialoge herausgearbeitet. Warum redet einer nicht über seine Armut und baut eher ein Lügenkonstrukt auf? Warum soll man keine Hilfe aufdrängen, wenn niemand darum bittet? Was ist die Tafel? Das alles wird locker nebenbei eingefügt, so dass hier niemals ein belehrender Zeigefinger hochspringt. Für Armut muss man sich nicht schämen – aber natürlich tut man es doch ... Interessante Nebenfiguren bereichern den Plot, der Klassenlehrer, eine Sozialpädagogin vom Jugendamt, die Familie von Nits, der Besitzer einer Döner-Bude – und natürlich ein paar ganz üble Gestalten in Lederkutten. Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Freunde halten zusammen! Aber klar doch! Der Beltz Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 11 Jahren – das passt. Meine Empfehlung für diesen exzellenten Kinderroman.
Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie ist Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. «Mein Sommer mit Mucks», «Tanz der Tiefseequalle» (ausgezeichnet mit dem LUCHS des Jahres) und «Der große schwarze Vogel», wurden für den Deutschen Jugendliteraturpreis wurden nominiert, sowie das Kinderbuch «Helsin Apelsin» und (zusammen mit Claudia Weikert) die Bilderbücher «Waldtage» und «Die Eroberung der Villa Herbstgold». Höflers Bücher wurden zahlreich nominiert und ausgezeichnet, darunter auch mit dem Leipziger Lesekompass, dem Kranichsteiner Jugendliteratur Stipendium («Der große schwarze Vogel») und dem Stipendium zum Reinhold-Schneider-Preis 2020.
Feuerwanzen lügen nicht
Kinderbuch, Kinderroman, soziale Ungleichheit, Armut
Hardcover, 234 Seiten
Beltz Verlag, 2022
Altersempfehlung ab 11 Jahren
Kommentare
Kommentar veröffentlichen