Direkt zum Hauptbereich

Atlas der abgelegenen Inseln von Judith Schalalansky - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Atlas der abgelegenen Inseln 


von Judith Schalalansky

Fünfundfünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde


Trindade: Dieser Flecken ist ein topografisches Desaster. lles ist in größter Willkür in den Ozean geworfen, zerfurcht, abschüssig und abweisend. Immer wieder kommt es vor, dass jemad auf einem Spaziergang verschwindet, von meterhohen Wellen weggespült, von einem Erdrutsch verschüttet oder von einem Krater verschlungen wird. Auf dem Friedhof erinnern Kreuze ohne Gräber an die Verschwundenen. Dieser Ort ist nicht für Menschen gemacht.


Auch heute noch gibt es einige abgelegene Inseln, die nur schwer erreichbar sind und wenn man sie besuchen möchte, muss man einen hohen Aufwand betreiben. Judith Schalansky aber hat sie gesammelt: fünfundfünfzig entlegene Inseln, die in jeder Hinsicht weit entfernt sind, entfernt vom Festland. Manche sind bewohnt, andere sind verlassen. Man findet sie bei keinem Reiseveranstalter. Die Autorin hat recherchiert und präsentiert kleine Geschichten zu jeder Insel. Historisches, Naturwissenschaftliches, Kurioses, Sagenhaftes, Anekdoten; in poetische Form gebracht, oder nüchtern. Für St. Helena, eine Insel, die bewohnt ist, die man mit dem Versorgungsschiff anfahren kann (die Reise dauert eine Woche), hat sich Judith Schalansky die Rückführung Napoleons herausgesucht, beschreibt eindrucksvoll das Prozedere. Erst nach seinem Tod hat man den einstigen Kaiser aus dem Exil zurückgeholt. Vier ineinandergeschachtelte Särge werden geöffnet. Dort liegt Napoleon. Das Schiff schwarz angestrichen, fährt den Leichnam zurück in die Heimat. 


Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.

 



Geschichten von exotischen Flecken auf dieser Erde, weitab in den Ozeanen; Judith Schalansky berichtet von seltenen Tieren und seltsamen Menschen – von gestrandeten Sklaven und einsamen Naturforschern, verirrten Entdeckern und verwirrten Leuchtturmwärtern, meuternden Matrosen und vergessenen Schiffbrüchigen, braven Sträflingen und strafversetzten Beamten, kurzum: von freiwilligen und unfreiwilligen Robinsons. Links auf jeder Doppelseite die Geschichte, rechts kunstvoll illustriert und durchgehend in fünf Sonderfarben gedruckt, die jeweilige Insel im identischen Maßstab. Vulkaninseln, Koralleninseln, gelegen in eisigen Welten, oder Sonnenflecken, mal sturmgetrieben, beginnend mit Ensomheden (norwegisch),  mit Einsamkeit übersetzt, russisch als Ostrow benannt (Zurückgezogenheitsinsel), gelegen im Arktischen Ozean - für mich hat sie die Form eines Fisches – bis zur Peter-I.-Insel in der Antarktis (russisch: Ostrow Petra I. und norwegisch Peter I. Øy), am nordwestlichen Rand der Bellingshausen-See im Südpolarmeer, zeigt uns die Autorin unbekannte Welten. Diese beiden sind unbewohnt, es sind unwirtschaftliche Inseln in der Kälte. Im Vorwort berichtet die Autorin, dass die Reise zu den diesen Orten lang und beschwerlich ist, die Anlandung zu einigen lebensgefährlich bis unmöglich ist, und Menschen Angst haben, auf solch einem Eiland vergessen zu werden. Tristan da Cunha, Robinsón Crussoe, Kokos-Insel, Socorro, Clipperton-Atoll, Laurie-Insel, Weihnachts- und Osterinsel, Reisen auf dem Papier zu fremden Orten, Mythen und Legenden, historische Begebenheiten. Ein schöner Schmökerband für die Exkursionen auf dem Sofa.


Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der «Atlas der abgelegenen Inseln (mare 2009), der Roman «Der Hals der Giraffe» (2011) und zuletzt «das Verzeichnis einiger Verluste» (2018), wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.


Judith Schalansky
Atlas der abgelegenen Inseln
Fünfundfünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde
Reiseliteratur, Kurzgeschichten, Sachbuch
Mare Verlag, Neuauflage von 2021


Ähnliche Literatur:

Die Inselsammlerin von Fenna Williams

Vielleicht sucht jemand von euch ein interessantes Reiseziel? Nein? Dies Buch ist trotzdem lesenswert. Reiseliteratur, wenn sie gut geschrieben ist, kann ein Genuss sein. Und wenn hier irgendjemand TUI-Format vermutet, dann liegt er völlig falsch. Fenna Williams ist reisesüchtig - individuell, mit Wanderstiefeln an den Füßen, erkundet sie Ecken auf der ganzen Welt, insbesondere Inseln, die den meisten Menschen unbekannt sind – zumindest haben sie noch nie einen Fuß dorthin gesetzt. Selbst wenn die Autorin Capri besucht, liegt sich nicht am Strand und besucht lediglich die blaue Grotte – sie erwandert die schöne Einsamkeit der Insel. Allein, einsame Wanderungen – nein, sie ist garantiert keine Einzelgängerin. Individualistisch – aber dicht bei den Menschen, meist mietet sie sich bei Einheimischen ein. Und genau das macht das Buch so reizvoll: Der enge Kontakt zu den jeweiligen Insulanern ist Fenna Williams ganz wichtig. 
Weiter zur Rezension:   Die Inselsammlerin von Fenna Williams


Logbuch – Schiffe, die Legenden wurden von Florian Weiß & Lucia Jay von Seldeneck

Was ist das für eine Art von Buch? Starke Kunst! Geschichten zu berühmten Schiffen und ein wenig mehr – historischer Hintergrund, aber eben Abenteuergeschichten. Sachhinweis zum Schiffstyp, Maßen, Masten, Antrieb, Verbleib, Jahreszahlen und Besonderheit. Die Kurzgeschichten in diesem Buch handeln von bedeutenden Schiffen aus aller Herren Länder. Sie erzählen von der ewigen Sehnsucht des Reisens, von der Härte des Meeres, von Eroberern und Entdeckern, von Versagern, von schlechten Konstrukteuren oder überragenden Leistungen. Es sind die Abenteuer der Meere. Spannende Geschichten von Lucia Jay von Seldeneck, bereichert mit Bildern von Florian Weiß, im künstlichen quadratischen Format. Eine gute Geschenkidee. Maritimes Allage von 13-99 Jahren.

Weiter zur Rezension: Logbuch – Schiffe, die Legenden wurden von Florian Weiß & Lucia Jay von Seldeneck


Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim