Direkt zum Hauptbereich

Vom Erzählen von Hermann Bausinger - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Vom Erzählen 


von Hermann Bausinger

Poesie des Alltags


Der Anfang: 

Erzählen können Alle. Zugegeben: Wenn in solchen Zusammenhängen von Allen gesprochen wird, handelt es sich meist um eine Übertreibung. Aber es trifft zu, dass Erzählen eine Kunst ist, die allen Menschen geschenkt ist. Nicht nur zum Zuhören, sondern auch zur Gestaltung. Menschen ohne physische Sprechbehinderung und ohne extreme Vereinsamung sind fähig zu erzählen, und sie machen von dieser Fähigkeit Gebrauch, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Die Frequenz ist nicht nur von ihrer persönlichen Neigung abhängig, sondern auch von ihrer gesellschaftlichen Einbindung und ihren Lebensverhältnissen.


Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger galt als lebende Legende und wurde scherzhaft als «Tarzan-Professor» tituliert, da er Comics in die Kulturwissenschaft mit einbezog und so das Fach Volkskunde entstaubte. Er ist im November 2021 in Reutlingen verstorben. Dies ist damit sein letztes Buch. Er untersuchte für dieses Sachbuch das alltägliche Erzählen - also Witze, Anekdoten, Märchen, allgemeine Plaudereien und natürlich Übertreibungen, der Schwatz im Treppenhaus, über den Gartenzaun – die soziale Kommunikation – eine Interaktion, die nicht der Wissenserweiterung dient, sondern die Beziehung zu anderen Menschen herzustellen, zu erhalten, zu verfestigen. Das Buch ist in drei Teilen strukturiert. Zunächst geht es um das Erzählen an sich, Orte, Gelegenheiten, Riten, Themen, über die man redet – wie entstehen Erzählungen. Im Mittelteil stellt Hermann Bausinger Erzählmuster vor, die sich in der Entwicklung der Menschheit manifestiert haben, mit welchen Hilfsmitteln sie konstruiert wurden, welche Bedeutung sie noch heute haben und wie sie sich verändern. Im letzten Teil erfahren wir etwas über Stilrichtungen; Sprachelemente stehen hierbei im Blickpunkt, Werkzeuge mit denen man stilistisch eine Erzählung reicher macht. Erzählen ist für Bausinger «eine zentrale Ausdrucksform menschlicher Kultur».


Mit-Teilung in gehobener Bedeutung. Die Teilhabe der Hörenden festigt die Verbindung, auch dann, wenn es sich um eine informationsarme oder gar tautologische Äußerung handelt.


Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Lange Zeit war die einleuchtende Antwort auf diese Frage: die Sprache. Aber je genauer die Zoologen beobachten, desto deutlicher wird, dass auch Tiere «sprachliche» Signale aussenden und verstehen. Den Unterschied macht der menschliche Umgang mit der Sprache - nicht nur ihre niedergeschriebene Fixierung, sondern auch ihre Reichweite: Sie schafft die Möglichkeit, die Grenzen von Raum und Zeit und sogar die Realität zu überschreiten; sie erschließt Geschichte und bringt Geschichten hervor. Wir erzählen! Und natürlich haben wir die Fähigkeit, zu lügen. Bausinger erklärt, wie sich Gerüchte entwickeln, verfestigen, wie Menschen einander Dinge erzählen. Er erklärt sogenannte «Wiederholungsorgien» und Dauerschleifen-Lügen. Die glaubhafteste Geschichte, so erklärt er, ist die, in der ein Erzähler zum Besten gibt, selbst dabei gewesen zu sein, noch besser, als Akteur beteiligt gewesen zu sein. Einer erzählt eine unglaubliche Geschichte – Staunen – Zweifel. Dann bestätigt ein anderer, er kenne den Akteur persönlich, es sei wahr. Und schon sind die Zweifel ausgelöscht. 


Das literarische Erzählen hat seine eigenen Gesetze, paradoxerweise mit einer weitgehenden Gesetzlosigkeit als Charakteristikum. In der Novelle ist nach der von Goethe eingeführten Formel prinzipiell die Wende durch eine unerhörte Begebenheit gefordert, und vom Roman erwartet man die konsequente Verknüpfung komplexer Erzählstränge. Für die Erzählung scheiden solche einigermaßen verpflichtenden Vorgaben aus, und die Variation reicht von der knappen Schilderung in einer Skizze bis zur Ausbreitung diverser Ereignisse und Sachverhalte über Hunderte von Seiten.


Ist eine Erzählung harmlos? Sprache kann verführen, lügen. Das wissen wir – Propaganda. Aber wie sieht es mit kollektiven Charakterisierungen aus? Einen zentralen Platz nehmen dabei die Märchen ein, aber auch Legenden, moralische Geschichten, die unser kulturelles Gedächtnis beeinflussen. Denn bereits im Kleinen zeigt sich im Märchen die Veränderung, je nachdem, welche Kultur erzählt. Bausinger vergleicht das deutsche «Rotkäppchen» mit der französischen Version «Le petit chaperon rouge», wobei Moral , deutsche Pädagogik und Demagogie eine Rolle spielen. Der Franzose Perrault verzichtet in seiner Interpretation auf «vulgäre» Beschreibung (z. B. Kannibalismus). Sexuelle Anspielungen sind hier im Spiel: Rotkäppchen legt sich nackt zum Wolf ins Bett, als er sie dazu auffordert. Am Ende werden Großmutter und Rotkäppchen vom Wolf gefressen. Ende. Im Anschluss an die Geschichte folgt ein kleines Gedicht: Ein kleines Mädchen warnt hier vor Sittenstrolchen. Das Märchen wird als Aufklärung und Warnung genutzt. Ein interessantes erzählendes Sachbuch, das analytisch das menschliche Erzählen erklärt, auf eine humorvolle Weise – eben erzählend. Es gibt eine Menge Ansatzpunkte zum Nachdenken und für Schreibende und Lesende wertvolle Tipps. Empfehlung!


Hermann Bausinger galt als lebende Legende und wurde schon mal als »Tarzan-Professor« tituliert. Der Grund: Er bezog auch Comics in seine neue Form der Kulturwissenschaft mit ein und erneuerte und entstaubte das Fach Volkskunde. Bausinger, 1926 in Aalen geboren, war an der Universität Tübingen viele Jahre Leiter des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft. Er veröffentlichte unzählige Publikationen, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise und warMitglied vieler Gremien und wissenschaftlicher Gesellschaften. Hermann Bausinger ist am 24. November 2021 in Reutlingen verstorben.


Hermann Bausinger
Vom Erzählen
Poesie des Alltags
Sachbuch, Erzählendes Sachbuch, Schreiben, Kulturwissenschaft
Hardcover mit Schutzumschlag, 206 Seiten
Hirzel Verlag, 2022




Zum Thema:


Erzählende Affen von Samira El Ouassil, Friedemann Karig

In diesem Sachbuch werden, banal gesagt, die Erkenntnisse der Erzähltheorie erörtert. Angefangen mit Lagerfeuergeschichten, Stammesgeschichten, Mythen und Märchen bis hin zur Ilias, Odyssee, über Herr der Ringe und Harry Potter, über die PR bis zu Film zum Gaming. Es geht auch um Selbstdarstellung auf Instagram usw. Wir alle wachsen mit Heldengeschichten und Märchen auf. Die Elemente der Heldenreise von Joseph Campbell «The Hero with a Thousand Faces» von 1945 sind der Grundstock. Jede Menge Bücher, Filme und TV-Serien werden nun als Beispiel benannt. Das Narrativ im Storytelling. Soziologie, Kulturtheorie, Rhetorik – können wir heute unter dem Storytelling weiterhin auf uralten Mechanismen aufbauen?

Weiter zur Rezension:  Erzählende Affen von Samira El Ouassil, Friedemann Karig


Über das Schreiben   

Auf dieser Seite findet ihr Bücher, die sich mit dem Schreiben, der Literatur und Themen für die schreibende Zunft beschäftigen.
Über das Schreiben



Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder