Direkt zum Hauptbereich

Schnall dich an, es geht los von Domenico Müllensiefen - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Schnall dich an, es geht los 


von Domenico Müllensiefen 


Er erzählte mir davon, wie er mit meinem Vater zur Dorfdisco gegangen war, wie dort Neue Deutsche Welle lief und die ganze Scheune bei dem Lied ‹Ich will Spaß› von Markus den Hitlergruß zeigte, als die Zeile lief: ‹Deutschland, Deutschland, hörst du mich?› Dirk sagte, dass dieses Lied ihn tief berührt hätte, weil es alles das ausdrückte, was in diesem Teil von Deutschland so schlecht lief. Man habe nicht Gas geben können, man habe auch keinen Spaß haben können, tatsächlich habe er sich gefragt, ob er von Deutschland gehört werde, ob es da hinter der Mauer Menschen gebe, die sich für sein Schicksal und das seiner Freunde interessieren würden. Er habe es nicht gewusst, aber ihm sei klar gewesen, dass er für den Staat, in dem er lebte, nur als sozialistischer Vorzeigebürger etwas wert war. Doch er wollte nichts mit dem Sozialismus zu tun haben, und so kam es, dass er schon weit vor 89 ein richtiger Nazi gewesen sei. Nur deshalb.

Früher begann in Jeetzenbeck die Freiheit. Provinz Anfang der Nullerjahre in der Altmark: hier war die erste Station auf der Reise in die weite Welt: nach Amerika. Damals der Traum: Amerika – heute ist die Zugverbindung nach Altenwedel eingestellt und die Einfamilienhäuser am Ortsrand verfallen. Marcel, der nie hier rausgekommen ist, arbeitet als Drehspießverkäufer, will nicht aufhören zu träumen. Von Steffi, seiner großen Liebe, von einer heilen Familie, von einem besseren Leben. Steffi ist gleich nach der Schule abgehauen. Irgendwann war auch sein Vater weg, der Lkw-Fahrer, der ihm die Welt zeigen wollte.


Osten ohne Zukunft

‹Nur an meinem Geburtstag wird ein anderes Bild gezeigt. Da werden halbtote Bürgerrechtler aus ihren Särgen geholt, mit Anstecknadeln versehen, und dann dürfen die noch ein paar warme Worte in ein Mikrofon sprechen, solange es nicht zu viele sind und sie keine Forderungen stellten, und das auch nur, wenn man sichergehen kann, dass die Querulanten von damals auch dem heutigen System brav nach dem Mund reden. Wolf Biermann singt dann noch ein Lied, beschimpft ein paar Politiker der Linkspartei, die damals noch nichts zu melden hatten oder gar nicht geboren waren, und im nächsten Bericht wird darauf hingewiesen, dass Grünpfeil und Sandmann den Weg in den Westen geschafft haben, und dann ist wieder mal gut. Gute Nacht, Dunkeldeurschland.›

Der Vater hat die Mutter sitzengelassen, mit Marcel und den Hypotheken für das Haus. Steffis Vater ist Kubaner, der hätte längst abhauen können, aber der liebt seine Frau und ist geblieben, die eben nicht nach Kuba wollte. Sein Traum, ein Restaurant … immerhin er gibt Marcel den Job in der Dönerbude – die ja so nicht heißen darf: Drehspieß. Hier kommen keine 10 Leute am Tag vorbei, für die meisten gib es das Essen gratis. Und Marcel hat seit Kindertagen einen besten Freund, der säuft, der noch nie gearbeitet hat, das auch in Zukunft nicht vor hat. Marcels kleine Schwester ist als Jugendliche mit dem Auto gegen die Friedhofsmauer gerast – tot. Ein trostloses Kaff, dass schon vor der Wende von Nazis durchsifft war – nichts los hier – aber es geht immer weiter. Allerdings in einem Osten ohne Zukunft; zumindest für die, die zurückgeblieben sind. 


Authentisch, gut beobachtet und gefühlvoll

Er trug schwere braune Stiefel, hatte eine schwarze Cargohose an, deren Seitentaschen ausgebeult waren, als wäre die Hose eine Reithose aus den dreißiger Jahren. Um seinen großen Bauch spannte sich ein schwarzes, ärmelloses Shirt. Darüber trug er eine Lederweste, auf der nicht wie damals Aufnäher mit Amerikaflaggen oder Symbole der Route 66 waren. Nein. Jetzt waren es eine dreibeinige Triskele, eingefasst in einen roten Kreis, auf dem in Runenschrift »Meine Ehre heißt Treue« stand. Darüber ein großer rechteckiger Aufnäher mit der Aufschrift ‹Born in DDR›, … Ich war froh, dass ich für solche Klamotten nie anfällig gewesen war. Als ich sechs Jahre alt war, hatte es in der Schule langsam angefangen. Erst waren es Lonsdale-Pullover, die vereinzelt auf dem Hof zu sehen waren. Dann trugen die ersten meiner Klassenkameraden Bomberjacken, New-Balance-Turnschuhe und später Springerstiefel. Schließlich schoren sie sich die Haare kurz.

Die Figuren und ihre Dialoge sind fantastisch authentisch – eigentlich passiert nichts, aber die Dialoge und die kurzen Rückblicke lassen tief blicken.  «… das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau. Abbau Ost.» Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Umschulung, Nazis, die schon immer da waren, die sich jetzt erst richtig in Szene setzen, der Faschismus macht sich breit – die Hoffnung stirbt zuletzt … nichts wird hier in den Vordergrund gestellt, es passiert einfach. Ein brüchiges Land, brüchige Biografien, Fußball, Bier, stinkende Männer, markige Sprüche, Pausenclowns. Man könnte meinen, das wäre Ossi-Klischee. Aber Domenico Müllensiefen ist aus dieser Gegend, er beobachtet sehr fein, mit viel Humor – und er kann erzählen. Er beschreibt eine ländliche, abgehängte Gesellschaft, Menschen, die immer wieder enttäuscht werden. «Wir waren die erste Generation, die im vereinigten Deutschland aufwuchs, wir waren die erste Generation, über die es nichts mehr zu berichten gab und für die sich niemand interessierte.» Nach der Wende die markigen Sprüche der Väter, alles wird anders, wir fahren nach Amerika, kaufen ein Haus … und gibt es nur schlecht bezahlte Jobs, der Kredit für das Haus belastet. Urlaub? Es reicht es nicht mal für den Balaton. Und wenn legal nichts geht, kommt man auf die Idee, es illegal zu probieren … Der Autor bringt einen wichtigen Satz: «… Altenwedel tatsächlich abgehängt sein, liegt es nicht an den Menschen, die hier leben. Es liegt an den Menschen, die es verwalten.» Und genau das ist das Problem. Wenn es vor Ort nichts mehr gibt, was man zum Leben benötigt, einen Arzt, einen Supermarkt, usw., dann werden die Menschen stinksauer. Marcels Weg wird sich ändern, am Ende: Schnall dich an, es geht los … Von den Nullern bis in die Gegenwartsebene, eine Entwicklung der Provinz. Klasse geschrieben, lässt das Buch nicht los bis zu letzten Seite. Authentisch, gut beobachtet und gefühlvoll, werden komplexe Themen einfach so in den Plot eingebunden, ohne erhobenen Zeigefinger, auch ohne fies draufzuzeigen. Ein spannender, humorvoller Gesellschaftsroman, Comming-of-age, Nachwenderoman, der ein bisschen die Provinzseele im Osten aufblättert. Empfehlung!



Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 Studium und Master am Deutschen Literaturinstitut. Nebenbei arbeitete er als Bestatter. Er war Mitherausgeber der Anthologie Tippgemeinschaft, lebt in Leipzig und arbeitet als Bauleiter. «Aus unseren Feuern» ist sein erster Roman.




Domenico Müllensiefen 
Schnall dich an, es geht los
Gesellschaftsroman, Zeitgenössischer Roman, Ostdeutschland, Comming-of-age, Nachwenderoman
Hardcover mit Schutzumschlag, 350 Seiten 
Kanon Verlag, Berlin 2024

Aus unseren Feuern von Domenico Müllensiefen

Roman beschreibt die junge Generation nach der Wende in Leipzig-Grünau, die größte Plattensiedlung in Sachsen. Träume, Hoffnungen – Realität; ein Arbeiter- und Nachwenderoman, der die sogenannten «Baseballschlägerjahre» beschreibt. Ein gnadenloses Buch, wundervoll geschrieben, mit Charakteren, die realistischer nicht sein können. Thomas soll den elterlichen Schlachtbetrieb übernehmen, Heiko macht eine Lehre zum Elektriker und Karsten möchte nach Amerika auswandern. Doch das Buch beginnt ein paar Jahre später. Heiko arbeitet nun als Bestatter und wird zu einem Autounfall gerufen, den Toten abzutransportieren. Es ist Thomas. Ein Gesellschaftsroman, Empfehlung!

Weiter zur Rezension:   Aus unseren Feuern von Domenico Müllensiefen


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman










Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck