Rezension
von Sabine Ibing
Sanctuary Paola
Mendoza und Abby Sher
Der erste Satz: Nach fünfzehn Schritten war sie tot.
Ein atemberaubendes Jugendbuch, ein Pageturner, eine Dystopie, die zu Herzen geht. USA, 2032: Alle Bürger:innen werden durch einen ID-Chip überwacht, und den erhält man eben nur als legaler Mitbürger mit dem US-Pass. Auf die illegalen Einwanderer wird Jagd gemacht. Man muss überall seinen Arm vorzeigen, sich scannen lassen, es ist beinahe unmöglich, undokumentiert zu leben. Allerdings gibt es tricky Typen, die diese Chips nachgebaut haben und sie mit gefälschten Daten bestücken und verkaufen. Die Familie der 16-jährigen Valentina González Ramirez, genannt Vali, war aus Kolumbien geflohen, hat zunächst im Süden der USA gewohnt, wo Valis Bruder Ernesto als US-Bürger geboren wird, einen legalen ID-Chip erhält. Weil die gefakten Chips so teuer sind, erhalten zunächst nur die Mutter und Vali einen. Und wie es kommen musste, wird der Vater erwischt und verhaftet. Er wird zurück nach Kolumbien überführt und verstirbt dort. Die Mutter zieht mit den Kindern in den Norden, jobbt hier und dort illegal, bis sie in Vermont eine feste illegale Arbeit in der Landwirtschaft erhält und die Familie sesshaft wird. Alles ist gut – sie leben vorsichtig, doch immerhin breitet sich bald das Gefühl von Normalität aus.
Die ID-Chips, würden bald das große Update bekommen
Nichts war okay. Nichts an dieser ganzen Welt war okay.
Aber vielleicht war ich einfach zu sehr daran gewöhnt, eine Lüge zu leben, um etwas anderes zu sagen.
Der Jugendroman beginnt damit, dass die Familie im Darknet einen Lifestream nahe der großen Mauer zu Mexiko am Bildschirm verfolgt. Ein fünfzehnjähriges Mädchen hatte es über den Maschendrahtzaun von Tijuana nach San Diego geschafft, geht Schritt für Schritt über das verminte Niemandsland, von den grellen Suchscheinwerfern der Soldaten verfolgt. Fünfzehn Schritte, dann ist ihr Leben vorbei. Ein Aufschrei bei allen Menschen, die zuschauen! Die wütende Menschmenge der Zuschauer vor Ort tobt – Hubschrauber ballern in die Menge – die Übertragung bricht ab; das Zeichen des Präsidenten erscheint – der ständig ungefragt auf den Handys erscheint. Es gäbe Updates. Die ID-Chips, würden bald das große Update bekommen, und dann könne sich niemand mehr verstecken, erklärt er. Es wird nun immer schwieriger, illegal zu leben. Der Chip von der Mutter funktioniert manchmal nicht mehr, eine Razzia auf dem Schulgelände und diverse in ihrem Wohngebiet machen den dreien Angst. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auffliegen werden. Und wer weiß, was das sogenannte große Update der Chips erst bringen wird. Sie müssen fliehen.
Bis nach Kalifornien ist es ziemlich weit
Kalifornien ist der einzige Bundesstaat, der sich weigert, hier mitzumachen, bietet an, jeden Illegalen aufzunehmen, der es über die Staatsgrenze schafft. Denn die USA bauen nun eine Mauer zu Kalifornien, das sich von den USA abgespaltet hat. Die Mutter von Val nimmt Kontakt zu ihrer Schwester auf, die in Kalifornien wohnt und spricht mit allen Freunden über Fluchtwege, bekommt die Adresse von Schwester Lotti in New York. Die erste Etappe; von hier würden sie an Fluchthelfer vermittelt. Die Familie packt die Rucksäcke, die Mutter verteilt alle Ersparnisse und dann geht es los. Glück gehabt, beim Einsteigen in den Bus nach NY funktionieren alle Chips reibungslos. Unterwegs gibt es eine Pause, bei der Kontrolle gibt der Chip der Mutter Alarm, sie wird festgenommen, macht Vali nonverbal klar, weiterzugehen mit Ernesto. Im Bus hört Vali, wie jemand sagt, die Frau hätte zwei Kinder bei sich gehabt. Schnell nimmt sie Ernie bei der Hand und sie steigen aus. Im Rucksack der Mutter findet Vali eine Karte, in die der Weg eingezeichnet ist. Sie müssen nach NY, dann eben zu Fuß den Rest des Weges. Bis nach Kalifornien ist es noch ziemlich weit. Selbst wenn sie es bis an die Grenze schaffen, wie sollen sie hinüber kommen?
Hochspannung bis zum letzten Satz
Dieser Schmerz, der mir das Herz zerriss, war einfach zu viel. Der Schmerz darüber, dass die Welt zerriss, Eltern ihren Kindern entrissen wurden und die Kinder in Kummer ertranken.
Paolo Mendoza und Abby Sher beschreiben fiktiv in Hochspannung eindrucksvoll eine Bürger-Überwachung und die brutale Verfolgung und Abschiebung von Immigranten in den USA des Jahres 2032. Das alles klingt verdammt real, und Vali berichtet aus der Ich-Perspektive was die Geschehnisse noch emotionaler wirken lässt. Die Staatspropaganda bezeichnet die Illegalen als lästiges Ungeziefer, macht sie verantwortlich für die Umweltkatastrophe und die Wirtschaftskrise in den USA. Real und eindringlich beschreiben die Autorinnen die Flucht des Geschwisterpaares und die Schicksale der Menschen, die ihnen auf ihrem Weg begegnen. Vor Vali und Ernie liegt ein langer Weg – eine authentisch klingende Geschichte, und genau das lässt dem Leser das Herz bluten. Spannend bis zur letzten Seite, völlig unsentimental wird die Erzählung präsentiert – brutal die Erlebnisse. So dystopisch ist die Story nämlich gar nicht, überall auf der Welt sind Menschen auf der Flucht. Die im Roman geschilderten Einzelschicksale sind deshalb so berührend, Gänsehaut pur. Letztendlich passieren genau diese Geschichten tagtäglich in Mexiko den Flüchtlingen, die derzeit in die USA einzureisen versuchen. Eigentlich muss man den Roman unter Abenteuerroman einordnen. Das fällt mir schwer, weil dies nicht unbedingt eine freiwillige Reise mit klasse Erlebnissen ist – auch wenn die Tour recht abenteuerlich wird. Wie lebt es sich als Flüchtling, wie fühlt es sich an? Immer die Angst im Nacken, erwischt zu werden – zurückgeschickt zu werden. Es sind hin und wieder spanische Sätze eingeflochten; die meisten werden übersetzt, aber eben nicht alle. Das fand ich schade. Grundsätzlich passt diese Verflechtung gut, da die Kinder sauberes Englisch sprechen, die Mutter jedoch in emotionalen Situationen in ihrer Muttersprache agiert. Ebenso sind die Flüchtlinge, auf die die Kinder treffen, meist spanisch sprechend, was der Realität entspricht. Eine Dystopie, die so real klingt, authentisch – und genau darum ist dieses Buch nichts für schwache Nerven und zarte Seelen. Aus diesem Grund hat der Carlsen Verlag, eine Altersempfehlung ab 14 Jahre gegeben – dem ich mich anschließe und auch Erwachsenen dieses Jugendbuch ans Herz lege, denn man kann es als Allage empfehlen! Abteilung Lieblingsbuch, nominiert für den Deutschen Jugend-Literaurpreis!
Paola Mendoza ist Autorin, Filmregisseurin, Aktivistin und Künstlerin, die sich an vorderster Front für Menschenrechte einsetzt. Sie ist Mitbegründerin des »Women’s March« und Co-Autorin des New York Times-Bestsellers »Together We Rise«. Mendoza hat ebenfalls bei preisgekrönten Filmen mitgewirkt.
Abby Sher ist Performerin und preisgekrönte Autorin. Neben Jugendromanen schreibt sie auch für diverse Zeitungen und Magazine, wie die New York Times, die LA Times, Elle u. v. m. Eins ihrer Essays war Vorlage für eine Fernsehshow. Sie schreibt Drehbücher und tritt selbst auf der Bühne und in Fernsehshows auf.
Sanctuary
Flucht in die Freiheit
Originaltitel : Sanctuary, 2020
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stefanie Frida Lemke
Jugendroman, Abenteuerroman, Flüchtlingsroman, Migration, Flucht, Diktatur, Überwachungsstaat, Kinder- und Jugendliteratur
Kartoniert, 352 Seiten
Carlsen Verlag, 2021
Altersempfehlung: ab 14 Jahre
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Kinder- und Jugendliteratur
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