Rezension
von Sabine Ibing
Malnata
von Beatrice Salvioni
Gesprochen von Rike Schmid
Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 6 Std. und 44 Min.
Wenn die Malnata in ihren ausgetretenen Sandalen an ihnen vorbei über das Kopfsteinpflaster von Monza schlurfte, mit erhobenem Kinn und in Begleitung von zwei älteren Jungen, beeilen sich die Frauen das Kreuz zu schlagen und ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, und die Männer spucken auf den Boden.
Unter der sengenden Sonne der Lombardei im Jahr 1935 begegnet Francesca zum ersten Mal Maddalena, die von allen im Ort nur «die Malnata» genannt wird: «Die Unheilbringende». Francesca – zu Konformität und Gehorsam erzogen – ist sofort fasziniert von dem barfüßigen Mädchen, dessen Hände immer schmutzig sind, die Augen voller Trotz. Entgegen allen Warnungen freundet sich Francesca mit Maddalena an und lernt mit der Zeit, den Lügen der Erwachsenen zu misstrauen. Die Malnata traut sich was! Ein Mädchen, das Jungen anführt, mit der Hand Fische im Fluss fängt, viel Blödsinn im Kopf hat und ängstlich von anderen gemieden wird; sie und Francesca werden beste Freundinnen. Es ist die Zeit des italienischen Faschismus unter Mussolini. Die Gesellschaft ist gespalten.
Zwei ungleiche Charaktere schließen Freundschaft
‹Wenn ich groß bin, will ich mitkämpfen›, sagte Filippo, ‹dann lerne ich, mit der Muskete zu schießen, und nehme mir die Frauen des Feindes.›
In dieser Gesellschaft, die keinen Platz für weibliches Freiheitsdenken lässt, ist jedes falsche Wort und jede unfolgsame Tat eine Gefahr … Francescas Eltern entstammen der besseren Gesellschaft, der Vater ist Hutmacher, Besitzer einer Hutfabrik, die Mutter eine gepflegte Dame, der an ihrem eigenen Aussehen, Wohlstand und Francescas Benehmen viel liegt. Und das soll auch so bleiben; auch wenn man sich bei den Fasci einschmeicheln muss, um an gute Aufträge zu kommen. Die Familie der Malnata ist arm, ihr Vater ist verstorben, die Mutter leidet an Depressionen, der älteste Bruder ernährt die Familie – und er ist ein Sozialist. «In der Welt der Malanta wetteiferte man darum, von Katzen gekratzt zu werden. Schmerz leckte man sich einfach zusammen mit dem Blut von der Haut.» Die Gegensätze könnten nicht größer sein. Francesca wurde im Regelwerk erzogen: Das darf man nicht, und wenn du es doch tust, wirst du zur Hölle fahren usw. Sie hat Angst vor all den schrecklichen Dingen, die passieren könnten, wenn sie sich nicht an die Regeln hält … Um der Malnata zu imponieren, klaut sie ein Körbchen Kirschen – und nichts passiert! Kein Höllenschlund tut sich auf; und als sie gleich darauf lügt, wird sie auch nicht vom Teufel geholt. Nichts verändert sich. Alles Lügen der Erwachsenen? Der Aberglaube ist in Süditalien weit verbreitet – und vor der Malnata hat man Angst, denn sie zieht die Menschen ins Unglück, so sagt man! Und sie hat die Wut im Bauch, die man spürt, wenn man in ihre glitzernden Augen schaut, sich darüber die gekräuselten Augenbrauen zusammenziehen. Sollte auch das reiner Blödsinn sein? Francesca will es wissen.
Die Machtstrukturen des Faschismus
Ihre Freundschaft beginnt, als die beiden circa 12 Jahre alt sind und wird die Jugendzeit anhalten. Am Ende wird sich zeigen, ob die Zusammengehörigkeit ein festes Band geknüpft hat, oder ob sich eine von den beiden Mädchen lieber selbst am nächsten ist. Ich wurde beim Lesen sofort an den ersten Teil von Elena Ferrantes «Neapolitanischer Saga» erinnert, als käme dieser Roman aus gleicher Feder. Auch hier endet die Geschichte zunächst, doch der Leser möchte wissen, wie es weitergeht … Der Roman ist politisch, denn er beschreibt die Machtstrukturen des Faschismus, beschreibt Männer, die sich nehmen, was sie wollen, Frauen, die nicht viel zu sagen haben, sich nicht wehren können. Offener Widerstand, Duckmäuser, Ungehorsam, Kriegsbeginn in Afrika und Profiteure; alles ist dabei. Neben der Mädchenfreundschaft steht das Leben einer Kleinstadt während des Faschismus im Mittelpunkt und nicht alles ist schwarz oder weiß, die Zwischentöne des Grau treten deutlich hervor. Herrlich ausgearbeitete Charaktere und eine spannende Geschichte machen den Roman zu einem Lesehighlight! Das Buch wurde bereits in 35 Sprachen übersetzt. Wer Ferrante mag, kommt an dieser Geschichte nicht vorbei!
Beatrice Salvioni, geboren 1995, studierte Literatur an der Universität Mailand und besuchte dann in Turin die renommierte Schreibschule Holden, gegründet von Alessandro Baricco. Sie hat bereits mehrere Erzählungen geschrieben, von denen eine mit dem Premio Calvino ausgezeichnet wurde. 2021 erregte das literarische Debüt der jungen Autorin große internationale Aufmerksamkeit. La Malnata wurde noch vor Erscheinen in Italien zu einem literarischen Ereignis und verkaufte sich innerhalb weniger Wochen in 20 Länder; inzwischen sind es 35.
Malnata
Originaltitel: La Malnata
Gesprochen von Rike Schmid
Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 6 Std. und 44 Min.
Aus dem Italienischen übersetzt von Anja Nattefor
Zeitgenössische Literatur, italienische Literatur, Mussolini, Faschismus
Der Hörverlag 2024
Penguin Verlag, 2024, Hardcover, 272 Seiten
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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