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Kurz vor dem Rand von Eva Rottmann - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Kurz vor dem Rand 


von Eva Rottmann


Der Anfang: 
Ich heiße Ari, und dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Sie geht nicht gut aus, das sag ich euch gleich. Also wenn ihr auf Happy Ends steht, legt ihr das hier lieber weg und geht euch ein Eis kaufen. Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal.

Der erste Satz, der Anfang, die erste Seite, sie ziehen sofort in den Jugendroman hinein. Der Lesende wird direkt angesprochen, taff, schroff, mit unterschwelliger Aggressivität. Und das Hauptthema ist gesetzt, ebenso das Genre: Drama. Jeden Tag trifft sich Ari mit Freunden zum Skaten auf dem Skatepark, und ihre Skater-Kumpels, betrachten sie als «eine von den Jungs». Für Ari, die Protagonistin, eine lebensrettende Aktivität, denn sie leidet darunter, dass die Mutter die Familie früh verlassen hat. Sie wohnt zusammen mit ihrem Vater Bob in einer Hochhaussiedlung, hat nun eine Ausbildung in einem Malerbetrieb begonnen. Und eines Tages steht Tom auf der Halfpipe, mit «beachtlicher Arschlochqualität». Als dann auch noch Aris Mutter zurück in die Stadt kommt, wird ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt: Ist sie wirklich glücklich damit, dass sie immer als eine der Jungs gesehen wird? Und hat ihre Mutter eine zweite Chance verdient?


«Der coolste Typ der Stadt war eine Pappkulisse»


Doch dann taucht ein neuer Junge im Skatepark auf, der ziemlich beeindruckende Tom. Tom fuhr aggressiv und sehr schnell, gleichzeitig stand er selbstverständlicher auf seinem Skateboard als manche Leute auf dem festen Boden. Es war ziemlich beeindruckend, das musste ich zugeben. Selbstbewusst und ohne jedes Zögern flippte und drehte er das Brett unter seinen Füßen, alles sah so unglaublich einfach aus bei ihm.

Als Tagebuch in 15 Kapiteln gestaltet, erleben wir eine Zeit, die Aris Leben durcheinanderwirbelt: Gefühle für Tom und durchmischte Gefühle für die Mutter, Fanni, die plötzlich ein Teil ihres Lebens werden möchte. Tom scheint zunächst an Ari interessiert, doch sie zeigt ihm die kalte Schulter. Und schnell ist er mit der attraktiven Leyla zusammen und Ari wundert sich, dass ihr das einen Stich versetzt. Aris Mutter hat sich lange nicht für sie interessiert, was an ihr nagte. Toms Vater ist gestorben. Beide kompensieren ihre Gefühle mit dem Skaten, beide sind waghalsige Fahrer, mit «Basishass», wie es Ari bezeichnet; beide spüren, da ist etwas zwischen ihnen, auch wenn Tom mit Leyla zusammen ist. Etwas verbindet die beiden und Ari erfährt einiges über Toms Leben, sein Innenleben. Und das ist nicht so cool, wie es nach außen erscheint. «Der coolste Typ der Stadt war eine Pappkulisse, die im Sand lag und über die ein paar Heuballen wehten.» Und genau das macht Tom für Ari noch attraktiver. Tom surft am Rand des Lebens und er droht auf die falsche Seite zu kippen. Er steht kurz vor dem Zusammenbruch. Und Ari erfährt, dass auch ihre Mutter nicht das zu sein scheint, was sie vorgab, eine starke, aber oberflächliche Persönlichkeit. Auch sie kämpft seit langem mit Depressionen, hatte einen schweren Zusammenbruch. 


Die Authentizität der Sprache beeindruckt


‹Liebst du sie noch?›, fragte ich.
Bob erwiderte meinen Blick, dann sah er aus dem Fenster. ‹Liebe›, sagte er, ‹Was heißt das? Will ich wieder mit Fanni zusammen sein? Nein, vielen Dank. Mache ich mir ständig Sorgen um sie und hoffe ich, dass es ihr gut geht? Ja, auf jeden Fall. Haben wir eine einfache Beziehung? Nein. Ist es Liebe? Ich glaube schon. Was für eine Art von Liebe? Keine Ahnung.›
‹Hä?›, sagte ich und rührte einen Löffel Zucker in meinen Kaffee. ‹Wie meinst du das? Wie viele Arten von Liebe gibt es denn?›
Bob zuckte die Schultern. ‹Ich glaube, es gibt so viele, wie du willst›, sagte er. ‹Was du mit Yasin, Lou und Teddy hast, das ist doch auch Liebe, oder nicht?›
‹Ja›, sagte ich. ‹Irgendwie schon.›

Ari spürt plötzlich Gefühle für Tom aufkeimen, die sie schwer einschätzen kann, wegdrückt, doch irgendwann nicht mehr ignorieren kann. Schminken und Mode standen nie im Interesse von Ari, doch plötzlich kann sie sich vorstellen, mal etwas auszuprobieren. Und ihre Mutter, was will sie plötzlich hier? Mit Mädchenzeugs hat die es drauf, vielleicht kann sie Ari beraten. Ein Sommer in der Hochhaussiedlung, immer am Limit, «Das sind unsere Sommer, das ist unser Leben. Mehr ist nicht los.», immer auf der Halfpipe, immer zusammen mit der Clique. Depression ist das Thema, auch wenn das Wort nie ausgesprochen wird. Der Kampf gegen die inneren Dämonen. Die Autorin nimmt sich empathisch das Thema vor, greift zum Trick des Tagebuchs und entwickelt eine Kunstsprache für ihre Protagonistin, die authentisch jugendlich klingt. Mit feinfühliger Sprache beleuchtet Eva Rottmann einfühlsam die Höhen und Tiefen des Teenagerlebens, beschreibt Aris erste Liebe, lebendig, realitätsnah, temporeich mit humorvollen Dialogen. Die Authentizität der Sprache beeindruckt, ein hervorragender Coming-of-Age-Roman. Ein Drama, das ein kleines Licht am Ende schimmern lässt. «Kurz vor dem Rand» wurde 2024 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, zu Recht. Das Verlagshaus Jacoby & Stuart gibt eine Altersempfehlung ab 14 Jahren; dem schließe ich mich an. Empfehlung!

Vielleicht ist das beste Leben kurz vor dem Rand. Nicht zu weit weg, aber auch nicht drüber. Einfach kurz davor.

Eva Rottmann, geb. 1983 in Wertheim, lebt mit ihren Kindern in Zürich, schreibt Theaterstücke und Prosa, entwickelt eigene Performance- und Theaterprojekte, arbeitet als Literaturvermittlerin in Schulklassen und als Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt war sie mit ihrem Klassenzimmerstück Die Eisbärin für den KinderStückePreis der Mühlheimer Theatertage nominiert.





Eva Rottmann
Kurz vor dem Rand
Jugendbuch, Jugendroman, Coming-of-Age, Skaten, Depression, Drama, erste Liebe
Hardcover, 204 Seiten
Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2023
Altersempfehlung: Ab 14 Jahren





Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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