Rezension
von Sabine Ibing
Ich an meiner Seite
von Birgit Birnbacher
Birgit Birnbacher erzählt vom jungen Arthur, der nach seiner Zeit im Gefängnis nur schwer eine neue Chance in der Gesellschaft bekommt. Arthur, 22, still und intelligent, ein Junge aus gutem Hause, hat 26 Monate im Knast wegen Internetbetrugs verbracht. Endlich wieder in Freiheit werden ihm in seiner Haftentlassenen-WG der unkonventionelle Therapeut Konstantin Vogl, der sich Börd nennt, und die Sozialarbeiterin Betty zur Seite gestellt. Schnell stellt er fest, ohne die passenden Papiere und Zeugnisse lässt man ihn nicht zurück ins richtige Leben. Eine kleine Lüge könnte die große Freiheit bringen.
Also träumen Sie erst mal einen Entwurf von sich. Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können. Verstehen Sie den Unterschied?
Birgit Birnbacher erzählt davon, wie einer wie Arthur überhaupt im Gefängnis landen kann, und wie kompliziert sich eine Resozialisierung gestaltet, selbst wenn man willig ist, ein «normales» Leben zu führen. Ganz real präsentiert die Autorin die Schwierigkeiten von Haftentlassenen, auch die Tricks, um den Lebenslauf aufzuhübschen, indem man die Haft als Auslandsaufenthalt deklariert. Es bleibt einem ja fast nichts anderes übrig. In Einschüben blicken wir zurück in Arthurs Vergangenheit. Der Vater verlässt die Familie und die Mutter Marianne eröffnet mit ihrem neuen Ehemann Georg in Andalusien ein edles Hospiz für Palliativpatienten. Arthur verkraftet den Umzug, sein Bruder nicht. Doch auch Arthur wird aus der Bahn geworfen …
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in der JVA Gerlitz, dass der Neue immer den Zellendienst macht. Den Zellendienst gibt es nicht. Der Zellendienst ist eine Erfindung der Insassen. Es fängt immer mit dem Zellendienst an.
Auch die Zeit im Gefängnis wird nicht ausgespart, der Leidensweg von Arthur unter Knackies: «Arthur ist auf einen Schlag mit der Faust gefasst und bekommt einen Tritt in die Eier, sackt zusammen, da sind die anderen schon da. Tritte gegen seinen Schädel.» Ein junger Mann, dem Gewalt bis dato eine Unbekannte war, eine neue Erfahrung, die ihm noch lange im Nacken sitzen wird. Birgit Birnbacher schreibt recht schnörkellos, an anderer Stelle mit viel Humor, eindringlich mit ausgefeilter Sprache, realistisch, klug, ohne zu bewerten. Wer sind wir und was wollen wir sein? Und was sind wir ohne einen makellosen Lebenslauf? Großartig geschrieben. Ein feiner Roman – Empfehlung!
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Romane Ich an meiner Seite (2020) und Wovon wir leben (2023).
Ich an meiner Seite
Zeitgenössische Literatur, Resozialisierung, Knasterfahrung, Österreichische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 272 Seiten
Paul Zsolnay Verlag, 2020
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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