Rezension
von Sabine Ibing
Hotel du Lac
von Anita Brookner
Der Anfang: Nur eine zurückweichende Fläche Grau war vom Fenster aus zu sehen. Hinter dem grauen Garten, in dem nichts außer einer steifblättrigen, unbekannten Pflanze zu wachsen schien, musste der große graue See liegen und sich in lautloser Ode zum unsichtbaren anderen Ufer hin erstrecken; und dahinter konnte man sich trotz der Bestätigung durch den Prospekt nur in der kühnsten Fantasien den Gipfel der Dent d’Oche vorstellen, auf dem vielleicht schon still und leicht der Schnee fiel.
Ende September, Nachsaison am Genfer See in der Schweiz. Edith, Ende dreißig, bezieht ihr Hotelzimmer: Neben der Tristesse des nebligen Ausblicks, ist sämtliches Interieur ihres Zimmers in der Farbe von gekochtem Kalbfleisch gehalten. Man hatte sie gebeten, sich eine Auszeit von London zu nehmen, denn die Schriftstellerin hat etwas angestellt – etwas, das Frau nicht tun darf … in der Mitte des Romans erfahren wir, was sie «falsch» gemacht hat. 1984 erhielt Anita Brookner (1928 – 2016) für «Hotel du Lac» den Booker-Preis. Und der Roman liest sich auch noch heute wunderbar. Hier in der «Besserungsaufenthalt» beobachtet Edith die Hotelgäste, im Wiederholen der Rituale tagein, tagaus.
Ich bin so kleinlaut, deswegen beachtet kein Mensch ihre Ansprüche. Oder – noch einfacher – ich stelle vielleicht gar keine. Weil es mir gegen die Ehre geht. Aber mit der Ehre ist es wie mit einer kaputten Wasserspülung, würde David sagen. Kein Mensch scheint es zu merken, wenn sie weg ist.
In dem feinen Hotel logieren wohlsituierte Frauen und langsam entstehen erste Kontakte zu den anderen Gästen. Die betagte englische Witwe Madame Pusey und ihre Tochter, die noch unter die Haube zu bringen ist, frönen dem Shoppingrausch der feinen Geschäfte in Genf. Für sie ein jährliches Ritual. Eine demente Comtesse verweilt hier wohlumsorgt von Frühjahr bis Herbst, während der gesamten Öffnungszeit abgestellt, sitzt irgendwo auf einem Stuhl und füttert ihr Hündchen, das gleich darauf alles wieder auskotzt. Einmal pro Monat besucht sie der Sohn mit Frau für eine Stunde. Die magersüchtige Gattin eines englischen Adeligen verbringt hier ihre Zeit mit Luftveränderung, um hoffentlich hernach schwanger zu werden; die Magersüchtige muss Kuchen vertilgen, um Figur zu bekommen. Gleichzeitig hält sie Ausschau nach einem wohlhabenden Mann, denn ihr Ehemann hat ihr bereits angedroht, sie auf die Straße zu setzen, solle ihm nicht baldigst ein Erben geboren werden – dann müsse er sich anderweitig umsehen. Hübsche Frauen findet man überall. Edith schreibt an einem ihrer Liebesromane und Briefe an ihren verheirateten Geliebten, die sie nie abschicken wird. Dann erscheint Philip Neville, ein Geschäftsmann, sogleich von der Damenwelt umschwärmt. Nur Edith interessiert sich nicht für ihn. Er wird ihr später ein Angebot offerieren … Glücklicherweise lese ich lange Vorworte gar nicht oder hinterher. Das hätte mich Lesevergnügen gekostet – denn hier ist bereits der ganze Inhalt samt Bewertung aufgeblättert. Bitte solche Texte bitte hinten ansetzen, lieber Eisele Verlag! Ein stilistisch wundervoller Roman, einer, der über das Selbstbild und den Selbstwert von Frauen resümiert, trotz aller Altertümlichkeit aktuell.
Es war der Umgang mit dem eigenen Geschlecht, überlegte Edith, der viele Frauen in die Ehe trieb. So war es bei ihr gewesen.
Anita Brookner, 1928 in London geboren, studierte Kunstgeschichte am King’s College und absolvierte ein postgraduales Studium an der Universität von Paris. Brookner wurde Expertin für französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts und übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der Schönen Künste in Cambridge. 1981 erschien ihr literarisches Debüt Ein Start ins Leben. Ihr Roman Hotel du Lac wurde 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Obwohl Anita Brookner erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben begann, verfasste sie bis zu ihrem Tod 2016 in London insgesamt 24 Romane. Sie gilt als meisterhafte Stilistin.
Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich
Aus dem Englischen von Dora Winkler
Roman, Erzählung, Englische Literatur
Gebunden, 224 Seiten
Eisele Verlag, 2020
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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