Rezension
von Sabine Ibing
Der Erinnerungshändler
von Orit Gidalie und Tami Bezaleli
Tag für Tag fährt der Erinnerungshändler mit seinem Sohn durch das Land auf der Suche nach Erinnerungen von Menschen. Eines Tages trifft er auf einen alten Mann. Er hat eine besonders wertvolle Erinnerung: die an seine große Liebe Rosie. Rosis Zopf duftete nach Kirschen und Himbeeren … Erinnerungen an eine Liebe findet man nur selten. So lässt der Händler den Alten erzählen, kauft ihm seine Erinnerung ab.
Doch nachdem der Alte dieses kostbare Gut verkauft hat, bemerkt er erst, wie sehr ihm diese Gedanken fehlen. Er muss sie unbedingt wieder zurückhaben … Eine berührende Geschichte darüber, wie viel uns Erinnerungen bedeuten. Eine schöne poetische Geschichte, die mit feinen Bleistiftzeichnungen in schwarz-weiß illustriert sind, lediglich die Erinnerung ist in Farbe gehalten, in Gold. Ich habe mich allerdings gefragt, an wen der Händler die Erinnerungen weiterverkauft und was sie bei den Käufern auslösen – das wäre eine spannende Frage. Die nächste Frage ist naturwissenschaftlich: Was gelöscht ist, ist weg. Wenn eine Erinnerung entfernt ist, kann ich mich nicht an sie erinnern; ergo, sie nicht vermissen. Vielleicht gehe ich zu rational an die Geschichte heran – aber ich kann nicht anders. Drum bin ich zwiegespalten. Auf der einen Seite atmosphärisch und poetisch, auf der anderen Seite auf den zweiten Blick zu irreal. Das Bilderbuch ist in Grautönen gehalten und alle Figuren zeigen durchweg eine traurige Mimik. Der Händler ist ein verschlagener Typ, der zunächst dem Alten seine Erinnerung herauslockt, um sie ihm ganz schnell abzukaufen; und er ist nicht bereit, sie ihm später zurückzugeben, auch wenn der Alte noch so drum bettelt. «Geschäft ist Geschäft». Dem Jungen geht es nah, und er kann seinen Vater überreden, dem Alten seine Erinnerungen zurückzugeben. Im übertragenden Sinn musste ich bei diesem Buch an Demenz denken. Platte gelöscht, die Erinnerungen verschwinden und mit den Erinnerungen die Persönlichkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob das Kinderbuch bei Kindern gut ankommt. Ich werde es sehen.
Orit Gidali, geboren 1974, hat Psychologie an der Hebrew University studiert und einen Master in Creative Writing von der Ben-Gurion-Universität. Sie publiziert seit mehr als 20 Jahren für Kinder und Erwachsene und zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen Dichterinnen Israels. Ihre Bilderbücher wurden in 12 Sprachen übersetzt. 2022 erhielt sie den Dvora-Omer-Preis für Kinderliteratur. Mitbegründerin und Dozentin an der größten Schule für Creative Writing, „Sadnaot Habait“. Sie ist Mutter von vier Kindern und lebt mit ihrer Familie in Rehovot, Israel.
Tami Bezaleli, geboren 1953, ist Künstlerin und unterrichtet Zeichnen und Skulptur in The Israel Museum und an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. 2023 war ihr Bilderbuch „Ho-Mama“ auf der Short List zum renommierten Sapir Prize for Literature. Lucia Engelbrecht studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien sowie der Hebrew University of Jerusalem. Sie übersetzt Prosa, Lyrik, Sachbücher sowie Kinderbücher aus dem Hebräischen ins Deutsche, zuletzt Josef Schächter, Nava Semel und Orit Gidali. 2024 wurde sie mit dem Übersetzer:innenpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.
Der Erinnerungshändler
Aus dem Hebräischen übersetzt von Lucia Engelbrecht
Kinderbuch, Bilderbuch, israelische Literatur, Kinder- und Jugendliteratur
Hardcover 32 Seiten
Vermes Verlag, 2024
Altersempfehlung: ab 5 Jahren
Kinder- und Jugendliteratur
Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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