Rezension
von Sabine Ibing
100 Jahrhundert Wörter
von Hans Jürgen Heringer
Hundert Wörter in 100 Jahren. Jahrhundertwörter, die Geschichte gemacht haben. Vorgestellt und sprachkritisch betrachtet in kurzen Essays von Hans Jürgen Heringer. Vom Blindgänger zum Bombenteppich, über den Zivi; von der Entwelschung über arisieren zur Rechtschreibreform und dem Genitiv sein Tod, von den höheren Töchtern, dem Backfisch zur Bildungskatastrophe und zur Chancengleichheit. Von der Zwangsanleihe übers Notgeld und der Zigarettenwährung zum Soli. Und von der Umwelt zum Waldsterben und über den Störfall zum GAU, vom Burgfrieden über die Dolchstoßlegende zur Stunde Null und zur Wende.
Viele Worte aus der NS-Zeit und aus der Nachkriegszeit
Ob diese Worte Geschichte gemacht haben, ob man sie als Jahrhundertwörter bezeichnen sollte, liegt im Auge des Betrachters. Ich hätte sicher eine andere Auswahl getroffen. Und richtig, Wörtern wie, Blaustrumpf, Wehrmacht, Trümmerfrauen, Reichskristallnacht, KZ, Mischehe, Sonderbehandlung, Untermensch, Mauerspecht, 68er, Glasnost, Wende, Multikulti zeigen uns Zeitgeschichte. Wenn ich mir dann das Essays zu den Trümmerfrauen anschaue, muss ich mit dem Kopf schütteln. Das typische Klischee: Deutschland musste aufgebaut werden, mehr Frauen als Männer waren vorhanden – drum mussten die Frauen ran. Richtig ist, dass es wenig zu essen gab, Lebensmittel nur auf Marken. Für das Trümmeraufräumen gab es als schwer arbeitender Bürger wesentlich mehr Lebensmittel. Genau das war der Grund, weshalb die Frauen Steine schleppten – garantiert nicht aus Liebe zu Deutschland. Was vergessen wird – darum gab es auch Trümmerkinder, die jeden Tag für höhere Essensmarken den Zement abgeklopft haben! Gegen den Staub trugen die Frauen Kopftücher – das Kopftuch war nach dem Krieg verpönt, weil es an die Trümmerfrauen erinnerte, laut Autor. So ein Quatsch! Das Kopftuch war noch lange stylisch, das Minikopftuch am Hinterkopf in den 50-Ern und Hollywood lässt grüßen mit dem großen Kopftuch – Grace Kelly usw. machten es vor.
Vielleicht hatte ich insgesamt mehr erwartet
Jedes Wort erhält eine Seite. Manche Essays fand ich interessant, andere weniger und einigen konnte ich nicht völlig folgen. Interessant das Wort Umwelt, erstmalig in einem Gedicht 1800 aufgetaucht, dann 1903 bei Kneipp und an Bedeutung und weitläufige Anwendung ab den 1970-Ern hat sich das Wort zum Schlüsselwort entwickelt. Vielleicht hatte ich insgesamt mehr erwartet, mehr Interessantes, etwas Neues – auf jeden Fall mehr Tiefe. Was mir gut gefallen hat, dass der Autor manche Wörter kommentiert und verschiedene Lösungen offenlässt, Fragen stellt. Der Lesende kann sich selbst eine Meinung bilden. Man fragt sich, ob Chaoten, Chauvi, Backfisch, Onkelehen usw. wirklich Jahrhundertworte sind. Mir würden ganz andere wichtige Worte einfallen, die wirklich eine Wende in dieser Zeit brachten, historische Wörter. Es war das Jahrhundert der Elektrizität, des Autos, des Computers, der Raumfahrt, der Internets, Social Media, Fakenews, der KI. Wie gesagt, was Geschichte beschreibt, liegt im Auge des Betrachters.
Hans Jürgen Heringer ist Professor für Linguistik und Interkulturelle Kommunikation. Er lehrte an verschiedenen Universitäten (unter anderem Heidelberg, Tübingen, Augsburg, Barcelona, Sorbonne). 1989 Konrad-Duden-Preis.
100 Jahrhundert Wörter
Taschenbuch, 142 Seiten
Sachbuch, Deutsch, Geschichte,
Königshausen & Neumann, 2023
Sachbücher
Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.Sachbücher
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