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Wütende Bärin von Ingebjørg Berg Holm - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Wütende Bärin 

von Ingebjørg Berg Holm


Der Anfang: 

Der Wind fährt über die Breite des Rückens und treibt den Schnee weiter in die Ebene hinaus, drückt ihn an der Felswand entlang nach oben und zerstäubt ihn zu pudrigen weichen Frostwolken. Einen Moment lang schweben die Kristalle in der Luft, ehe eine neue Windböe sie wieder ins Tal fegt.

Unten am Boden werden schwächere Luftströme von dem Körper abgefangen und treiben den Schnee über das rechte Bein, bis er sich wirbelnd im Schritt einnistet. Das linke Bein ist angezogen, der Schenkel bildet einen Windschutz, der Teile des Torsos bewahrt. Auf der vom Wind abgewandten Seite häuft sich der Schnee vor dem Thermoanzug zu kleinen Wällen an, die aufgelöst werden, sobald kräftigere Windstöße durch den Spalt zwischen Arm und Körper fegen.


Auf der einen Seite ist dieses Beziehungsdrama ein Psychothriller, andererseits gibt es sicher Leser, die mir nicht zustimmen, weil der Fokus auf einer Dreiecksbeziehung liegt. Alles beginnt mit einem toten Menschen im Schnee; das Drama ist gesetzt. Im letzten Kapitel werden wir erfahren, wer dort liegt. Was spannend beginnt, zieht sich teilweise ein wenig zäh dahin. Dem Klappentext zu Folge erwartet man eine Eisgeschichte, die kommt aber nur im Prolog und ganz am Ende zum Tragen, schade. Hier hat der Verlag Hoffnungen geweckt, die nicht erfüllt werden.


Wer darf der Vorsteher sein?

Njål war einmal mit Sol verheiratet. Die beiden hatten sich Kinder gewünscht, doch Sol kann keine bekommen. Als die Beziehung für Njål langweilig wird, beginnt er heimlich mit Nina anzubändeln. Nina kann nichts mit Kindern anfangen, sie empfindet sie als Störfaktoren. Eine Beziehung, die auf sexueller Begierde entsteht. Doch eines Tages ist Nina schwanger; Njål ist entzückt, er trennt sich von Sol, lässt sich scheiden. Diese drei Personen arbeiten gemeinsam an einem Zentrum für Klimawandel in einem gemeinsamen Projekt. Die Beziehung zwischen Njål und Nina hält nicht lange. Der Vater erhält das Sorgerecht für die kleine Lotta, Nina Besuchsrechte ... der Streit darum landet vor Gericht. Wessen Name darf in der gemeinsamen wissenschaftlichen Studie zuvorderst postiert werden? Auch hier stehen Nina und Njål in Konkurrenz. Nina fühlt sich ausgeschlossen aus der Dreierkonstellation auf Grund ihrer langen Abwendetheit am Arbeitsplatz. Ein Kompetenz-Gerangel – das bis in den Sorgerechtsstreit reicht.


Das Drama schreitet voran

Drei Menschen, drei Perspektiven. Drei Menschen, drei hochexplosive Emotionen, die von Verletzungen und Egoismus geprägt sind. Mittendrin ein Kind, um das gerangelt wird, ein verhängnisvolles Beziehungsgeflecht, das in einem Drama enden muss. Nina, die von postpartaler Depression geplagt wird, die von ihrer Mutterrolle völlig überfordert ist, die sie nie annehmen wollte, ist gerade wieder aus der Krankheit ins Team zurückgekehrt. Eifersucht auf allen Ebenen. Im Zentrum Njål, der hin und hergetrieben wird. Würde Njål das volle Sorgerecht erhalten, dürfte er Lotta langfristig mit nach Spitzbergen nehmen, die im Norwegischen Svalbard heißt, eine einsame Inselgruppe zwischen Nordatlantik und Arktischem Ozean. Njål  ist der Natur und der Einsamkeit sehr zugetan und ist Mitglied einer «Wickinger-Gruppe», bei den Kultveranstaltungen doch eher moderat auftritt. Die fürsorgliche Sol, die sich immer ein Kind gewünscht hatte, sieht die Chance, Njål zurückzugewinnen, gleich mit einer Tochter im Schlepptau.


Wenig Eis und Schnee

Ingebjørg Berg Holm dringt in die Seelen der Protagonist:innen ein – von denen nicht einer sympathisch ist. Ihre distanzierte Erzählhaltung führt aber dazu, dass man keiner Figur wirklich nahekommt. Lotta, das kleine Mädchen, wird als Spielball benutzt, Macht zu deklarieren, anderen wehzutun; die Seele des Kindes ist jedem Protagonisten egal. Hier geht es nicht um Kindeswohl, sondern um Machtdemonstration. Nicht darum, sich eines Kindes annehmen, es zu erziehen, sondern darum, es zu besitzen. Die Geschichte ist keinesfalls langweilig, aber etwas kompensierter hätte man sie mit diesem distanzierten Blick gestalten können. Leider wird die Erwartungshaltung zum Klappentext nicht erfüllt: Ein Drama in Eis und Schnee. Und genau darum hatte ich mich für den Roman interessiert. Wohl deswegen war ich ein wenig enttäuscht. Ohne Prolog und Ende hätte die Story auch in Barcelona, Paris oder Moskau spielen können. Die erste Seite eröffnet: Wir haben es mit einem Drama zu tun. Und im Showdown es wird spannend in Eis und Schnee enden. Ein guter Roman, der sich mit dem Kinderwunsch, der Vereinbarkeit von Kind und Arbeit auseinandersetzt – mit dem rücksichtslosen Gezerre um Kinder nach einer Trennung.


Ingebjørg Berg Holm ist Autorin und Innenarchitektin, sie lebt in Bergen/ Westnorwegen. Für ihren von der Kritik gefeierten Debütroman »Stjerner over, mørke under« wurde sie für den Riverton-Preis nominiert und gewann den Maurits-Hansen-Preis. Die »Wütende Bärin« ist ihr dritter Roman.



Ingebjørg Berg Holm
Wütende Bärin
Originaltitel: Rasende Binne
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
Zeitgenössische Literatur, Drama, Norwegische Literatur, Thriller, Psychothriller
Hardcover mit Schutzumschlag, 360 Seiten
KJM Verlag, 2022




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