Direkt zum Hauptbereich

Wer nicht? von Claudia Piñeiro - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Wer nicht? 


von Claudia Piñeiro 

Erzählungen


Sie wollte, dass er auszieht, sie wollte die Ehe beenden, sie wollte, dass die Kinder heute bei ihm übernachten. Und was will er? Bis gestern hätte er gesagt: zurück nach Hause, zurück zu Silvia, wieder mit den Kindern zusammenleben. Heute Abend ist er sich da nicht so sicher, zum ersten Mal weiß er es nicht so genau.


Bisher hat Claudia Piñeiro Romane veröffentlicht, die mich allesamt begeistert haben. Crime-Storys, keine Krimis, Romane in hohem literarischen Format. Der «Corriere della Sera» schrieb über sie: «Hitchcock ist eine Frau, und sie lebt in Buenos Aires.». Das finde ich sehr passend, um ihre Romane zu beschreiben. In diesem Band hat sie sechzehn Erzählungen zusammengetragen, sehr unterschiedliche Geschichten, die sie über viele Jahre verteilt geschrieben hat. Wie verhalten wir uns, wenn ein Erlebnis uns den Boden unter den Füßen wegzieht, wenn wir plötzlich in einer unerwarteten, unangenehmen Situation stecken, wenn das Leben eine abrupte Wendung nimmt? Geschichten über Beziehungen, Geheimnisse und unwiderrufliche Entscheidungen, Ereignisse, mit denen man plötzlich konfrontiert wird, Begebenheiten über Menschen, denen das Leben eine Falle stellt.


Womit niemand rechnet

Es beginnt mit der Geschichte «Bei Papa», die mich sehr berührt hat. Ein Immobilienmakler, geschieden und damit planlos, wohnungslos, übernachtet in leerstehenden Unterkünften seiner Kunden, wechselt ständig unauffällige Liegenschaften, rollt seinen Schlafsack aus. Plötzlich soll er den Geburtstag seines Sohnes feiern, seine Kinder, an denen er sehr hängt, sollen nun doch einmal bei ihm übernachten. Was tun? Eine möblierte Wohnung muss her; und da gibt es ein wundervolles Objekt, dessen Besitzer in London lebt. Dieser Mann wiederum fliegt maximal einmal im Jahr nach Buenos Aires, und tief in seinem Herzen will er die Wohnung gar nicht verkaufen, drum auch der erhöhte Verkaufspreis seit Jahren. Eine plötzliche Hochzeit lässt ihn reisen, und als er die Tür mit seinem Schlüssel öffnet, steht er mitten in einem Kindergeburtstag …


Geschichten aus dem Leben

Ihre Großmutter hatte drei Hunde. Und sie benutzte auch eine Nadel, aber keine Plastiktüte, sondern einen der beiden Eimer. Was aus ihrer Schwester rauskam, landete in dem Eimer für die Hühner. Sie hat damals gesehen, wie ihre Großmutter es aus ihrer Schwester rausgeholt hat, deshalb wusste sie auch, wie sie bei ihrer Tochter vorzugehen hatte …


Während des Flugs stirbt ein Mann am Herzinfarkt. Die Witwe erhält zwei Koffer zugestellt, Reisegepäck ihres Mannes. Aber er reiste doch nur mit einem! Zwei identische Koffer mit fast identischem Inhalt – die Frau erfährt so vom langjährigen Doppelleben ihres Mannes und seiner Zweitfamilie. In einer anderen Geschichte schleicht eine Mutter mit ihren Kindern zum Lachen auf den Dachboden. In «Abfall für die Hühner» dient eine Stricknadel zur Abtreibung, die Geschichte setzt sich mit der illegalen Abtreibung auseinander – Ende Dezember 2020 wurde nach langem Kampf der Frauen ein Gesetz in Argentinien beschlossen, das nun die Abtreibung nun bis zur 14. Woche legalisiert.


Erzählerische Kraft der Spitzenklasse.

Claudia Piñeiro ist präzise in ihrer Beobachtung und wie immer ist ihr schnörkelloser Stil eine Reduzierung auf das Wesentliche. Tiefgründig und einfühlsam berichtet sie von der Menschlichkeit. Was würdest du tun, stellt sich der Leser die Frage in mancher Geschichte. Einige sind skurril und andere spielt das tägliche Leben. Familiengeheimnisse, Hoffnung, Streit, Eifersucht, Liebe und Tod, das Ende ist stets abrupt und mit voller Wucht gesetzt, führt zum zum Weiterdenken. Die Autorin ist Meisterin im Subtext, was sie auch hier wieder beweist, erzählerische Kraft der Spitzenklasse.


Claudia Piñeiro gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens. Ihre Bücher sind regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden und werden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Geboren 1960 in Burzaco, Buenos Aires, studierte sie Wirtschaftswissenschaften. Während zehn Jahren arbeitete sie als Rechnungsprüferin, was sie, wie sie sagt, lehrte, hinter die Fassaden zu blicken. Danach wandte sie sich dem Schreiben zu. Sie arbeitete als Journalistin, schrieb Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher und führte Regie fürs Fernsehen. 2003 erschien Piñeiros erster Roman Ganz die Deine. Ihre Romane sind meist Kriminalromane, aber gehen über das Genre hinaus. Sie hält der Gesellschaft den Spiegel vor und hinterfragt, deckt Abgründe in vermeintlichen Idyllen auf, immer schonungslos, immer humorvoll. »Claudia Piñeiro berührt und schockiert gleichermaßen und trifft wahrscheinlich gerade deshalb den entscheidenden Nerv. Die Wahrheit ist leider nicht immer schön, aber sie ist nun mal Realität.« (Preußische Allgemeine Zeitung) Ihre Romane wurden verfilmt und oft ausgezeichnet, unter anderem 2005 mit dem Premio Clarín für Die Donnerstagswitwen und 2010 mit dem LiBeraturpreis für Elena weiß Bescheid. Claudia Piñeiro ist Mutter von drei Kindern und lebt in Buenos Aires.


Weitere Rezensionen zu Claudia Piñeiro:


Claudia Piñeiro 
Wer nicht? 
Aus dem argentinischen Spanisch von Peter Kultzen
Erzählungen, Kurzgeschichten, Zeitgenössische Literatur, Kriminalliteratur, Argentinische Literatur, Lateinamerikanische Literatur
Unionsverlag, 2020





Kathedralen von Claudia Pineiro

Lía glaubt nicht mehr an Gott. Nicht, seit ihre siebzehnjährige Schwester grausam ermordet wurde, eine Tat, die nie aufgeklärt wurde. Von ihrer streng religiösen Familie in Argentinien fühlte sie sich völlig allein gelassen, und sie brach den Kontakt ab, als sie kurze Zeit danach nach Spanien zog. Ausgerechnet in Santiago de Compostela lässt sie sich nieder, um eine Buchhandlung zu führen – mitten im katholischen Herzen. Lediglich mit dem Vater führt sie einen heimlichen Briefkontakt. Dreißig Jahre später steht plötzlich die ältere Schwester in ihrem Laden, die nach ihrem Sohn sucht. Und dieser Sohn, der nun ebenfalls vor der Familie floh, mit dem Großvater engen Kontakt pflegte, bringt Nachrichten mit, die den Mord wieder aufleben lassen. Ein hervorragender Roman, Kriminalroman zum religiösen Dogmatismus.

Weiter zur Rezension:   Kathedralen von Claudia Pineiro


Der Privatsekretär von Claudia Piñeiro

Wer den politisch – literarischen Thriller mag, wird hier auf seine Kosten kommen. Die argentinische Bestsellerautorin Claudia Piñeiro hat einem narzisstischen, charismatischen Multimillionär auf die Finger geschaut. Bauunternehmer Fernando Revira, reich geworden durch Finanz- und Immobilienspekulationen, gründet die Partei »Pragma«. Sein Ziel ist es, Präsident von Argentinien zu werden. Dazu sind ihm alle Mittel recht, er geht über Leichen. Respekt hat er vor einem Fluch. Nichts kann den Revira erschrecken, bis auf seinen Aberglauben.



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans