Direkt zum Hauptbereich

Tausend Monde von Sebastian Barry - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Tausend Monde 

von Sebastian Barry 


Könnte sein, dass ich von Dingen rede, die sich 1873 oder 1874 im Henry County, Tennessee, zugetragen haben, doch was Daten betrifft, war ich noch nie verlässlich. Und falls sie sich zugetragen haben, gab es zu der Zeit keine wahrheitsgetreue Darstellung. Es gab nackte Tatsachen und eine Leiche, und dann gab es die wahren Ereignisse, die niemand kannte. Dass Jas Jonski getötet wurde, war die nackte Tatsache.

Vor zwei Jahren erschien der in deutsche Sprache übersetzte Roman «Tage ohne Ende» und ich war ich begeistert.   Er erzählt hier die Geschichte eines Iren, der nach Amerika auswandert; von der Brutalität der Neuen Welt, wie er John Cole kennenlernt, der sein Freund wird, vom Sezessionskrieg, von der Abschlachtung der Ureinwohner, wie diese beiden Unionssoldaten am Ende das Indianermädchen Winona retten und adoptieren, sich gemeinsam auf einer Farm niederlassen. 


Rechtlos in der Neuen Welt


Als ich ihn kommen sah, heulte ich nur noch Rotz und Wasser – so war mein Gemütszustand. Er trat durch die Tür. Der dunkle Raum nahm seinem Gesicht den Schimmer, so wie ein Löffel, der in eine Schale Haferschleim getaucht wird, seinen Glanz verliert. Rosalee Bougguereau war ungewöhnlich tollpatschig und ließ die Kaffeekanne auf den Herd krachen, aufgeregt, einen so bedeutenden Mann zu sehen.

Und dies ist die Geschichte von Winona. Sie ist um die siebzehn Jahre alt, sie ist intelligent, kann lesen und schreiben, besonders gut rechnen und sie beherrscht die Buchhaltung, die sie in der Stadt für einen Anwalt erledigt. Ein polnischer Einwanderer, Jas Jonski, ist in sie verliebt, will sie sogar heiraten. Immer wieder lauert er ihr auf. Einerseits fasziniert sie das – ein Weißer, der ein Indianermädchen ehelichen will – andererseits traut sie ihm nicht ganz über den Weg. Ihre Väter warnen vor dem Mann. Und dann lässt sie sie sich von Jas Jonski zu einem Whisky überreden, der sie völlig aus den Latschen haut. Sie wacht im Pferdestall auf, weiß nicht, was geschehen ist – aber eins ist klar, sie wurde zusammengeschlagen und vergewaltigt! 


Auf der Suche nach der Identität

Ihr Leben hat einen weiteren Riss bekommen. Als Kind musste sie erleben, wie ihr Stamm von den Weißen ausgelöscht wurde. In der Gesellschaft gelten Indigene als Nichts, sie haben keinerlei Rechte! Lediglich auf der Farm, wo sie mit Thomas und John, mit Lige Magan und den befreiten Sklaven Rosalee und Tennyson eine neue Familie gefunden hat, ist sie sicher und hier wird sie angenommen. Weil sie sich nur bruchstückhaft erinnern kann, hegt sie den Verdacht, dass ihr Vergewaltiger nur Jas Jonski sein kann und sie sinnt auf Rache. Doch Thomas, John und Lige Magan kann sie nichts von ihrer Vermutung erzählen, die sie würden Jonski sofort erschießen, selbst im Gefängnis landen. Also schweigt sie, behauptet, sie habe keine Ahnung, wer das gewesen sein könne. Sie will sich selbst der Sache annehmen.

Eine rechtlose Gesellschaft

Wie kam es, dass ich das Glück hatte, Männer um mich zu haben, die so gut wie Frauen waren? Ich glaube, nur eine Frau weiß, wie man leben soll; ein Mann ist meist zu hastig, vorschnell. Diese Waffe mit schon halb gespanntem Hahn verwundet aufs Geratewohl. In meinen Männern dagegen fand ich unerschütterliche, lebendige Weiblichkeit. Welches Glück. Welche Fülle von wirklichem Reichtum!

Sebastian Barry beschreibt Tennessee zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg: Der Süden ist am Ende, auf den Banken ist das Kapital knapp, Menschen hungern, die Rebellen wittern ihre Chance – und durchs Land ziehen ehemalige Soldaten mit Kapuzen, vor denen nicht einmal die Weißen sicher sind. Ehemalige Soldaten, die keinen Platz mehr im Leben haben, leerstehende Farmen, Menschen, die sich im Leben durchschlagen, Mais und Tabakanbau, eine verkommene Kleinstadt. Tausend Monde, so bezeichnen die Ureinwohner einen langen Zeitraum oder auch nur einen kurzen Augenblick. Die Perspektive einer jungen Frau, die ins Erwachsenenalter eintritt, ihre Identität sucht, die immer auf der Hut sein muss, weil sie rechtlos ist – eben nicht dazugehört, eine Indigene. «Es war, als sei jedes Herz sprachlos» – Sebastian Barry begeistert durch seine Sprache. Ein Western, wie man ihn gerne liest, der an der Zeit nahe dran ist, die Realität transportiert, schonungslos, aber mit viel Einfühlungsvermögen. Der kleine Ort Paris steht für die Nachwehen des Sezessionskriegs, für eine gespaltene Gesellschaft und für die, die eigentlich gar nicht dazugehören, versammelt auf dieser Farm: Befreite Sklaven, Homosexuelle und ein indigenes Mädchen, eine verschworene Gemeinschaft. Der Erzählweise von Barry muss man einfach unterliegen, ergreifend-brutal, hohe Erzählkunst!


Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren, gehört zu den «besten britischen und irischen Autoren der Gegenwart» (Times Literary Supplement). Er schreibt Theaterstücke, Lyrik und Prosa. «Ein verborgenes Leben», ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und auf der Shortlist für den Booker Preis, «Mein fernes, fremdes Land», ausgezeichnet mit dem Walter Scott Prize for Historical Fiction, «Ein langer, langer Weg», auf der Shortlist für den Booker Preis, Gentleman auf Zeit. Sein Roman «Tage ohne Ende» 2018 auf Deutsch erschienen, war ein internationaler Bestseller und wurde u. a. mit dem Costa Book of the Year Award ausgezeichnet. Sebastian Barry lebt in Wicklow, Irland.



Sebastian Barry 
Tausend Monde
Originaltitel: A Thousand Moons
Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser
Roman, historischer Roman, irische Literatur, Westernroman
256 Seiten, Leineneinband
Steidl Verlag, 2020




Wer gute Western mag, von diesem Buch angesprochen ist, dem empfehle ich diese zwei Romane:

Die Besiedlung der Weißen von Texas (Indianerkriege) - ein texanischen Clan, die McCulloughs, die während der letzten 150 Jahre um Land, Öl und Macht kämpfen - drei Generationen, drei Motivationen, bis in die 1960-er

Um 1870 finanziert Will Andrews, der Harward-Student aus Boston, Miller den Deal seines Lebens, eine Jagd auf die kostbaren Felle der Büffel in einem unbekannten Tal in den Rocky Mountains. 


Die Zerstörung der Natur durch die Einwanderer in Kanada und USA wird in diesem Familienroman sehr fein dargestellt:  Aus hartem Holz von Annie ProulxDetailliert und kenntnisreich das harte Leben der ersten Siedler von 1693 bis in die heutige Zeit an Hand von zwei Familien: Thema Holz – Die Abholzung der USA.


Sessionskrieg USA:

Tage ohne Ende von Sebastian Barry


Das grausame Camp Sumter bei Andersonville, 1864, Kriegsgefangenenlager der Konföderierten wird in folgendem Krimi gut dargestellt: Alte Feinde von Petra Ivanov


Die Zweige der Esche von Laird HuntDer Sezessionskrieg - amerikanischer Bürgerkrieg - Frauen kämpfen in Männerkleidung


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

Rezension - Der Schneeflockensammler von Robert Schneider und Linda Wolfsgruber

  Eine wunderschön poetisch geschriebene Geschichte über einen verträumten Jungen, der viel Zeit mit Nachdenken verbringt und fasziniert ist von den kleinen Dingen der Welt im Lauf der Jahreszeiten: den Eigenheiten der Blätter, der Steine und der Schneekristalle, die ihn besonders begeistern. Immer wieder entrückt Wilson Bently bei der Arbeit, beschäftigt sich mit den Details der Natur. Schau dir das Ulmenblatt an, es hat die gleiche Form wie der Baum, in der Mitte der Stamm, die Verästelung der Blattadern, wie ein kleiner Baum. Schneekristalle begeistern ihn. Wilson Bently ist eine reale Person – es ist eine Biografie. Linda Wolfsgruber taucht die Erzählung in winterliches Blau-Weiß ein, Grafiken, die sich in die Tonalität von Robert Schneider einpassen. Empfehlung! Bilderbuch ab 5 Jahren. Weiter zur Rezension:    Der Schneeflockensammler von Robert Schneider und Linda Wolfsgruber

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

  Saisonal kochen das ganze Jahr. 100 Rezepte, über 300 Varianten Gemüse satt - das ganze Jahr, möglichst regional! Mit über 100 alltagstauglichen Gemüserezepten und unzähligen Tausch-Optionen begeistert dieses Kochbuch nicht nur Gemüsekisten-Fans. Die Kapitel sind nach Monaten aufgeteilt, die Saisongemüse aufgezählt. Ob knusprige Rösti aus Kartoffeln und schwarzem Rettich, gebratener Rhabarber mit Ziegenkäse oder Wirsing-Pasta mit Nussbröseln. Stefanie Hiekmann zeigt, wie man das Beste aus seiner Gemüsekiste herausholt, alles verwertet und saisonale Schätze haltbar macht. Einfach, nachhaltig, gesund und lecker! Die Rezepte sind einfach, also für Anfänger optimal, für den versierten Koch voller Anregungen. Absolute Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb