Rezension
von Sabine Ibing
Synthese
von Karoline Georges
Ich brauche die Orte, die ich durchquere, nur als Szenen eines Videoclips zu sehen, mich selbst zur Kamera, zum abstrakten Auge zu machen, und schon nehme ich nur noch eine dynamische Anwesenheit von Menschen wahr, vor einem beweglichen Hintergrund aus Farben und Formen; ich muss mir einreden, dass sie gar nicht wirklich da sind, sondern nur Bilder in einer virtuellen Umgebung.
Als ein 16-jähriges Model auf dem Weg nach Kanada ist, passiert zeitgleich in Tschernobyl ein Unglück in einem Atomkraftwerk. Das interessiert sie genauso wenig wie Mode. Eigentlich interessieren sie nur Fiktionen in ihren Büchern und Virtuelles. Sie liebt Bilder, Bilder im Kopf, würde selbst gern ein Bild sein. So wird sie Model, auch weil man so viel Geld verdienen kann, ohne studieren zu müssen. Sie macht in Paris Karriere und wird sehr jung finanziell unabhängig, bezeichnet sich selbst als «ein humanoider Kleiderbügel». Wir erfahren in kurzen Rückblicken etwas über ihre Familie. Ihre Mutter war nie für sie da, trotz Anwesenheit, eine Alkoholikerin. Von ihrem gewalttätigen Vater hat sie sich längst abgewendet, meist war er nicht zu Hause – das war auch gut so. Das Kind flüchtet sich ins Fantastische: Trickfilme, Bücher; sie lässt keinen Emotionen zu, stumpft ab, entfremdet sich der Realität. Sie flüchtet sich später in die virtuelle Welt.
Schreiben kann Karoline Georges
Sämtliche Sommer meiner Kindheit verbrachte ich zurückgezogen in meinem Zimmer im Souterrain und verschlang hinter verschlossenen Vorhängen zwei bis drei Romane am Tag.
Allerdings ist die berichtende Ich-Erzählerin bereits eine alternde Frau, umgeben von Hausrobotern.
Ich habe das Buch drei Mal angefangen, immer wieder weggelegt. Für mich gab es interessante Stellen, aber das emotionslose Erzählen – was eben zu dieser Person passt – die von sich und ihren Gedanken spricht, begann mich zu langweilen. Letztendlich passiert ja nichts, es gibt kaum Begegnungen. Wenn es eine gibt, ist sie beobachtend ohne Interaktion. Einzig ein Besuch im Krankenhaus löst bei ihr etwas aus. Sie sieht ihre Eltern nach langen Jahren wieder, vergreist. Den Vater ignoriert sie, die Mutter in ihrem Elend entsetzt sie; sie rennt wieder hinaus. Schreiben kann Karoline Georges, es gibt wundervoll sprachlich gestaltete Stellen, Tiefsinniges, drum habe ich mich auch bis zum Ende gequält. Es ist kein Buch für mich, insgesamt hat mich der Stoff gelangweilt und die rationale Erzählung konnte mich nicht berühren.
Bevor meine Mutter es mir irgendwann erklärte, habe ich lange geglaubt, dass sich das, was ich auf dem Bildschirm sah, tatsächlich irgendwo live abspielte. Das das Fernsehen eine Art Webcam sei, noch bevor es Webcams gab.

Karoline Georges
Synthese
Originaltitel: De Synthèse
Aus dem kanadischen Französischen übersetzt von Frank Heibert
Zeitgenössische Literatur, Kanadische Literatur
Hardcover, 176 Seiten
Secession Verlag, 2021
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