Rezension
Von Sabine Ibing
Stumme Schreie
von Petra Ivanov
Das Fenster steht offen. Davor sitzt ein kleines Mädchen und klopft mit einem Löffel gegen den Heizkörper. Seine Windeln sind schwer, durchtränkt mit Urin. Es lauscht dem metallenen Echo, die Stirn vor Konzentration gerunzelt. Unermüdlich holt es aus, schlägt zu, holt wieder aus, schlägt zu. Da entdeckt es unter dem Heizkörper eine Banane. Der Löffel fällt zu Boden, das Mädchen greift nach der Banane und schiebt sie sich in den Mund. Es verzieht das Gesicht. Die Schale schmeckt bitter.
Ein spannender Krimi aus Zürich, bei dem Bruno Cavalli und Regina Flint erstmals nicht miteinander arbeiten. Cavalli kehrt nach langem Aufenthalt in den USA in die Schweiz zurück und tritt eine neue Stelle an: interne Ermittlung. Ein Job, den niemand gerne macht, gegen eigene Kollegen ermitteln zu müssen. Doch er will Regina den Rücken freihalten, die als Staatsanwältin für die Abteilung Leib/Leben zu jeder Tageszeit zur Verfügung stehen muss. Mit Cavallis «Schreibtischjob» hat er pünktlich Feierabend, ein freies Wochenende, kann sich auf seine Tochter konzentrieren.
Eine Frau und ihr Sohn werden vermisst. Der Vater vermutet eine Kindesentführung. Rettung oder Straftat? Wollte die Mutter sich von dem gewalttätigen Mann trennen, ist nach Südamerika zurückgekehrt, hat den Sohn mitgenommen? Die Mutter selbst scheint aber ähnlich rabiat zu sein. Hat der Vater die Mutter im Streit ermordet und hält das Kind versteckt? Die KESB, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, ist bereits in dem Fall tätig geworden. Es steht zur Diskussion, den Jungen aus der gewalttätigen Familie herauszunehmen. War die KESB mal wieder zu spät? Oder hat jemand das Kind entführt, eine Spur führt zu Pädophilen. Das Team um Regina Flint ermittelt nach allen Seiten. Wann handelt man zu spät bei Gewalt in der Familie? Wann greift man zu früh ein? Ein Kind gehört zu Eltern, doch manchmal ist es gerade im Familienbund gefährdet – ein heißes Eisen für jeden Sozialarbeiter und andere Institutionen ...
Cavalli fühlt sich in der Internen nicht wohl
Bruno Cavalli stand in seinem neuen Büro und starrte an die Wand. Er versuchte zu begreifen, wie er hier hatte landen können. Vor acht Monaten war er noch Chef des Dienstes Leib/Leben gewesen. Er hatte ein Team von Ermittlern geführt, wichtige Fälle selbst geleitet und am Schweizerischen Polizei-Institut unterrichtet. Er gehörte mehreren Fachgremien an und fungierte als Ansprechperson für die Staatsanwaltschaft IV, die sich auf Gewaltdelikte spezialisiert hatte. I, korrigierte er sich in Gedanken. Die Behörde war umstrukturiert worden, die Staatsanwaltschaft IV hieß jetzt I.
Cavalli muss gegen einen Kollegen ermitteln. Hatte der Informationen zu Durchsuchungen ins Milieu weitergegeben? Der Polizist wirkt niedergedrückt und scheint etwas zu verbergen. Als sich Cavalli bei den Kollegen umhört, bekommt er nur positive Rückmeldungen, das sei ein hilfsbereiter Kollege. Stefan Guth ist zu gut, meint eine Kollegin; er will ständig helfen, merkt allerdings nicht oder zu spät, dass seine Hilfe oft beim Gegenüber nicht gewollt ist, sogar stört. Hier passt gar nichts zusammen, denkt sich Cavalli, aber eins ist klar: Irgendetwas stimmt nicht mit dem Kerl.
Akribisch recherchiert
So offen Petra Ivanov beim Schreiben an ihr Manuskript herantritt, mit wenig Planung, so akribisch ist sie in der Beschreibung alles Details. Auf den Punkt gebracht die Polizeiarbeit und die der Staatsanwaltschaft erklärt, Behördenabläufe. Präzise Darstellung der Rechtsmedizin und Eurojust. Und das alles hat sie in einen spannenden Plot eingebaut. Puzzlearbeit auf beiden Seiten. Vermutungen, Theorien – die Tafel wischen, neue Ansätze finde. Informationen kommen tröpfchenweise herein; daraus erben sich neue Erkenntnisse. Aber nichts passt zusammen, weder bei Flint noch bei Cavalli, der mal wieder Spuren auf eigene Faust nachgeht. Stück für Stück, Wendungen, Parallelen ... und am Ende passt wie immer alles zusammen. Der Krimi führt Regina Flint nach Den Haag, zur europäischen Justizbehörde Eurojust, die Ermittlungen und Strafverfolgungen der einzelnen Mitgliedstaaten koordiniert. Sie erleichtert die internationale Rechtshilfe sowie die Erledigung von Auslieferungsersuchen. Da die Schweiz nicht zur EU gehört, ist die Zusammenarbeit schwieriger. Im Abspann bedankt sich die Autorin, dass sie mit der Schweizer Gruppe von Eurojust nach Den Haag fahren durfte. Wie immer: akribisch recherchiert. Petra Ivanov hat hier einen intelligenten Plot zusammengefügt, spannend und strukturiert, wirklichkeitsnah, mit einem Flair von Zürich; jedoch nicht im Reiseführerformat, sondern mitten im Leben der Ermittler. Der Krimi hat Tempo, aber genug Gelassenheit, nicht über die eigenen Füße zu stolpern. Ein Kriminalroman vom Feinsten.
Lesung Petra Ivanov mit Mike la Marr - Schloss Rapperswil |
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten. Petra Ivanov hat zahlreiche Auszeichnungen für ihre Werke erhalten.
Stumme Schreie
Kriminalroman, Krimi, Polizeikrimi, Zürisch, Schweizer Literatur
Ein Fall für Flint und Cavalli (9)
Gebunden mit Schutzumschlag, 352 Seiten
Unionsverlag, 2021
Entführung von Petra Ivanov
Die Millionärstochter Lara Blum wurde entführt. Der Täter ist schnell gefunden, Rechtsanwalt Pal Palushi wird zum Pflichtverteidiger ernannt. Doch der Täter, ein strenggläubiger Muslim, verweigert jede Aussage, auch gegenüber seinem Anwalt. Wer ist dieser Mann, und wer ist er wirklich, denn Mustafa Saifullah, wie er sich nennt, gibt es nicht – ist er ein Psychopath, der Frauen missbraucht oder ein Terrorist? Keine Hypothese gibt einen Sinn. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Hier ist nichts, wie es scheint. Petra Ivanov hat mit diesem Krimi einen grandiosen Plot hingelegt. In dieser komplexen Geschichte stimmt alles bis zur letzten Seite.
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Alte Feinde von Petra Ivanov
Um es gleich vorwegzusagen, mit diesem Thriller küre ich Petra Ivanov zur Queen of Crime der Schweiz. Schon das erste Kapitel ist atemberaubend. Cavalli ist wieder da! Wo hat er nur gesteckt? Der Leser wird es erfahren, Regina Flint noch lange nicht. – dies ist der achte Fall für Cavalli und Flint, wer die anderen sieben nicht kennt, der kann hier problemlos einsteigen. Regina Flint ermittelt derzeit in einem ungewöhnlichen Todesfall, ein Mann wurde mit einer historischen Waffe mit Pulvermunition erschossen. Der Tote ist ein Nachfahr von Heinrich Wirz, eine umstrittene Figur aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Und damit wären wir beim dritten Strang, der in die Zeit des Sezessionskrieges zurückführt.
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Schockfrost von Petra Ivanov und Mitra Devi
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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