Direkt zum Hauptbereich

Entführung von Petra Ivanov - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Entführung 


von Petra Ivanov


Der Anfang:
Steinerne Mienen, steife Rücken, angespannte Stille. Im Büro der Staatsanwältin knistert die Luft, sie war aufgeladen mit kaum verhohlener Wut.

Die Millionärstochter Lara Blum wurde entführt. Der Täter ist schnell gefunden, Rechtsanwalt Pal Palushi wird zum Pflichtverteidiger ernannt. Doch der Täter, ein strenggläubiger Muslim, verweigert jede Aussage, auch gegenüber seinem Anwalt. Wer ist dieser Mann, und wer ist er wirklich, denn Mustafa Saifullah, wie er sich nennt, gibt es nicht – ist er ein Psychopath, der Frauen missbraucht oder ein Terrorist? Keine Hypothese gibt einen Sinn. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Pal steckt er wieder in der Zwickmühle

Jasmin Meyer ist Pal Palushis Freundin. Die Expolizistin ist selbst ein Entführungsopfer. Sie wurde drei Monate von einem Psychopathen festgehalten, hatte danach den Dienst bei der Polizei quittiert und war nach Thailand gegangen, um ein Altenpflegeheim zu leiten (Vorgeschichte aus den vorigen Bänden). Pal ist der Meinung, er hätte damals einen Fehler gemacht, man hätte den Entführer schneller finden können, wenn er richtig gehandelt hätte. Und nun steckt er wieder in der Zwickmühle. Er hat einen Tipp zur Identität seines Mandanten erhalten – er darf ihn natürlich nicht an die Polizei weitergeben, das wäre Mandantenbetrug. Er leidet Seelenqualen – was passiert, wenn er die Information für sich behält? Ist das Opfer überhaupt versorgt? Er ist an das Anwaltsgeheimnis gebunden – doch andererseits geht es um das Leben einer entführten jungen Frau … Zudem kommt Jasmin zu diesem Zeitpunkt nach Zürich zurück. Sie fühlt sich stark genug, wieder ins Schweizer Leben einzutreten, beide freuen sich auf ein gemeinsames Leben. Sie möchte nun als Privatermittlerin tätig sein. Die Zeit ihrer Entführung kommt wieder hoch. Sie will Pal behilflich sein – sie muss die junge Frau finden. Dazu nimmt sie auch Kontakt mit den alten Kollegen auf. Pal hat albanische Wurzeln, ist nichtpraktizierender Muslim – doch dieser Fall zieht ihn tief hinein in die salafistische Szene der Muslime – steckt hier ein Terroranschlag dahinter? Der Vater der Entführten hatte eine Zeit lang in Syrien einen Betrieb geleitet. Oder ist der Mandant schlicht ein Psychopath?

Die Arbeit von Exekutive und Judikative bis ins Feinste nebenbei erklärt

Hier ist nichts, wie es scheint. Petra Ivanov hat mit diesem Krimi einen grandiosen Plot hingelegt. In dieser komplexen Geschichte stimmt alles bis zur letzten Seite. Die Autorin nimmt sich hier einerseits das Anwaltsgeheimnis vor. Ein Anwalt macht sich strafbar, wenn zu Ungunsten seines Mandanten etwas verrät, ohne es mit ihm abgesprochen zu haben. Im Prinzip völlig klar – doch auch ein Anwalt kann irgendwann persönlich mit seinem Gewissen in Konflikt geraten. Pal, ein absolut korrekter Strafverteidiger, der sich noch nie etwas zu Schulden kommen ließ, unter psychischem Druck, und macht er dieses Mal einige Dinge, die Jasmin ihm nicht zugetraut hätte … Die Arbeit von Exekutive und Judikative bis ins Feinste nebenbei erklärt.

Er hat es nicht so gemeint», sagte sie leise. ‹Ralf hatte schon immer eine große Klappe.›
Pal seufzte. ‹Weiß er, wie viel Schaden er damit anrichtet?›
‹So weit denkt er nicht.›
‹Arschlochanbeter.› Er schüttelte den Kopf. ‹Pinguin.›
‹Das ist ein Schimpfwort für eine Frau, die eine Burka trägt. Vermutlich trägt die Person, von der sie gesprochen hat, gar keine Burka, sondern einen Nikab oder bloß ein Kopftuch, aber achtet schon auf solche Details.

 

Pageturner mit  unerwarteten, intelligenten Wendungen 

Radikalisierung ist ein weiteres zentrales Thema in diesem Roman. Wie geraten junge Menschen an Rattenfänger und werden radikalisiert? Man erfährt auch eine Menge über verschiedene muslimische Glaubenspraktiken, von gar nicht, ein wenig, streng bis radikal - die Konflikte, die dabei bis in die Familien reichen. Petra Ivanov schlägt sich nie auf eine Seite, prangert niemanden an. Sie zeigt auch, wie schwierig es heute für Muslime ist, in einer christlichen Welt zu existieren, ohne ständig schief angeschaut zu werden. Angst vor Terrorismus, das Ausschlachten der Medien von Ereignissen, rassistische Anfeindungen und Unterstellungen machen das Leben nicht einfach – selbst wenn man kein praktizierender Gläubiger ist. Namen, Ursprungsländer oder Aussehen reichen heute, um ausgegrenzt zu werden. Andererseits zeigt sich der Staat hilflos gegenüber salafistischen Gruppen, die versuchen, junge Menschen zu rekrutieren – nicht nur junge Muslime. Dieser Pageturner ist nicht nur spannend dank der vielen Perspektivwechsel, die Story hat eine Menge unerwartete intelligente Wendungen zu bieten. Die Autorin geht tief in die Charaktere hinein, auch in Nebenfiguren. Pal und Jasmin entfernen sich in diesem Band voneinander, jeder kämpft den Kampf mit seinen eigenen Dämonen, verheimlicht dem anderen etwas – aber sie schaffen es immer wieder, sich zusammenzuraufen. Aktuell und tiefgründig, im Sprachstil gekonnt, wieder einmal beweist Petra Ivanov, dass sie die Queen of Crime der Schweiz ist.


Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Journalistin. Heute ist sie als Autorin tätig und gibt Schreibkurse an Schulen und anderen Institutionen. Ihr Debütroman Fremde Hände erschien 2005. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten. Petra Ivanov hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten: Zürcher Krimipreis 2010, nominiert in 2016. 2010 nominiert für den Bookstar-Preis und 2011 den dritten Platz, 2011 Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, 2011 Pro Helvetia, 2015 nominiert für den Bookstar-Preis, 2017 nominiert für den Friederich-Glauser-Preis, 2019 Writer in Residence Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte, 2020 »Silberne Lupe« des Crime Cologne Award.


Petra Ivanov 
Entführung
Meyer und Palushi ermitteln (4)
Kriminalroman
Gebunden, 384 Seiten
Unionsverlag, 2019


Weitere Rezensionen zu Krimis von Petra Ivanov



Krimis und Thriller 

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, 
einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante

Die Neapolitanische Saga Band 1 Ein moderner Klassiker als Graphic Novel umgesetzt – ich war gespannt, da Elena Ferrante sehr ausführlich in ihrer Tetralogie nicht nur die Freundschaft zwischen Elena und Lila beschreibt, sondern gleichzeitig ein Sittengemälde der Zeit wiedergibt, soziale und politische Strukturen aufnimmt, die Übernahme der Camorra in Neapel beschreibt. Wenn ich das zusammenziehe, ist der Comic missglückt. Denn der bezieht sich wirklich nur auf einen wesentlichen Kern: auf die Beziehung zwischen Elena und Lila, zwei Lebensläufe, die gemeinsam beginnen, aber auseinanderdriften. Zeichnerisch ist das Buch sehr gelungen.  Weiter zur Rezension:    Meine geniale Freundin von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante