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Sing, wilder Vogel, sing von Jacqueline O’Mahony - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Sing, wilder Vogel, sing 


von Jacqueline O’Mahony



Nichts zu essen zu haben: Das war das unmittelbare, dringendste Problem in jedem Augenblick, der Dreh- und Angelpunkt. Auf der Suche nach Nahrung waren sie von zu Hause aufgebrochen, hatten nichts gefunden und waren jetzt noch hungriger als vorher …


Im Focus des Anfangs dieses Romans steht ein historisches Ereignis, 1849, die Tragödie in Doolough, in Irland im County Mayo. Sie ist im kollektiven Gedächtnis Irlands als ein ergreifendes Zeugnis des Leidens der Iren verankert. Irland war von der Großen Hungersnot betroffen, als es von England verwaltet wurde. Die Briten behandelten die Hungersnot empathielos als Naturkatastrophe, und nicht als eine humanitäre Krise, die eine massive Intervention erforderte. Die Beamten sollten Essen an die Gebiete verteilen, die am stärksten betroffen waren. So machten sich Hunderte von hungrigen Iren von überall auf den Weg, um von den Beamten in Louisburgh empfangen zu werden. Völlig entkräftet standen sie dann aber vor verschlossenen Türen des Amts und erfuhren, dass die britischen Beamten sich in der Delphi Lodge niedergelassen hatten, in einem Jagdhaus, das 20 km südlich. Man wies die Menschen an, sich am nächsten Tag um 7.00 Uhr dort einzufinden. Ein Sturm tobte, es regnet in Strömen und war bitterkalt. Die verzweifelten, entkräfteten Menschen marschierten weiter dorthin. Am nächsten Morgen lagen mehr als 400 Iren tot vor der Lodge, Erschöpfung, Unterernährung und Kälte hatte sie dahingerafft.


Das böse Omen des piseog


Wahrheit muss man sich verdienen, so wie Vertrauen oder Liebe, fand sie. Es ist schwer, sie zu verdienen, und leicht sie zu verlieren.

Und Honora O‘Mahony ist eine von ihnen, die sich auf diesen Marsch begeben wird. Als sie geboren wurde, flog ein Rotkehlchen ins Haus, unheilbringend, so der Aberglaube, der in Irland fest verankert war. Und natürlich stirbt ihre Mutter bei der Geburt. Das Unheil liegt über ihr – die Geschichte beginnt mit dem Prologin einem Bordell in Amerika. Das böse Omen des piseog, des Rotkehlchens, macht Honora zur Außenseiterin in ihrem Dorf an der irischen Westküste. Auf dem Rückweg von Louisburgh, immer noch hungrig, erleidet Honora vor Erschöpfung eine Fehlgeburt, ihre Schwiegereltern sind tot und ihr Mann verstirbt. In ihrer Not schleicht sie sich auf ein Schiff nach Amerika. Schlimmer kann es nicht werden, sagt sie sich. Zunächst hat sie Glück, denn drei junge Frauen finden sie, verstecken sie in ihrer Kabine und füttern sie durch. Sie sorgen sogar dafür, dass Honora als Hausmädchen einen Job erhält. Schnell stellt sie fest, dass dies die reinste Ausbeutung ist. Sie war nach Amerika gereist, um in Freiheit zu leben! Und darum büchst sie aus. 

‹Glaubst du, dass du irgendwann zurückkehrst?›, fragte er. ‹Dahin, wo du hergekommen bist?›
‹Nein›, sagte sie verblüfft. ‹Ich kann nie wieder zurück. Die Schiffe auf denen wir kamen, werden Särge genannt, weil unterwegs so viele gestorben sind und weil Irland zu verlassen wie sterben ist. Mit diesen Schiffen kann man nicht zurück.›

Ihr Leben ein Auf und Ab von schrecklichen Schicksalsschlägen und herzlichen Momenten. Honora gibt nie auf, immer die Freiheit vor Augen. Und genau dieses Ziel schiebt sie immer wieder an, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Jacqueline O’Mahony benutzt Zeitsprünge für verschiedene Lebensabschnitte von Honora, das funktioniert prima. Sie steht im Mittelpunkt, der Charakter ist gut herausgearbeitet, aber alle anderen Protagonist:innen wirken farblos, da sie ihnen nicht viel Raum gibt. Das ist schade. Das Ende mit all seinen Facetten schien mir ein wenig zu aufgesetzt mit seiner Befriedung für alle Beteiligten. Interessant ist der Vergleich von Irland mit Amerika, deren Land von den Briten in Besitz genommen wurde. Der Umgang englischen Gutsherren mit den Iren, die ihre Pächter sofort aus dem Haus geschmissen, sobald sie die hohe Pacht nicht zahlen konnten, was neben Missernten zu den Hungersnöten geführt hatte. Honora freundet sich in Amerika mit einem Cayuse an, dessen Stamm von den Weißen vertrieben wurde, eingesperrt ins Umatilla-Reservat. Die beiden haben viel gemeinsam, beiden Völkern haben sie das Land genommen und sie werden von den Eroberern gebeutet – und beide suchen die Freiheit. Ein prima moderner Western, der an manchen Stellen etwas aufgeplustert ist, was aber nichts macht. Ein wenig Figurentiefe hat mir gefehlt. Alles insgesamt ein guter Roman mit historischen Eckdaten.


Jacqueline O’Mahony wurde im Alter von vierzehn Jahren vom Irish Examiner zur jungen irischen Schriftstellerin des Jahres ernannt. Sie machte ihren BA in Irland, ihren MA an der Universität von Bologna und ihren PhD in Geschichte am Boston College und als Fulbright-Stipendiatin an der Duke University. Sie arbeitete bei Condé Nast als Stylistin und Redakteurin für Vogue und bei Associated Newspapers als Kulturredakteurin. 2015 schloss sie den MA-Studiengang für kreatives Schreiben an der City University mit einem erstklassigen Abschluss ab. Ihr Debütroman A River in the Trees wurde für den Authors› Club Best First Novel Award und den Not the Booker Prize 2020 nominiert. Sie stammt ursprünglich aus Cork, Irland, und lebt mit ihrem Mann und ihren drei kleinen Kindern in London.




Jacqueline O'Mahony 
Sing, wilder Vogel, sing 
Originaltitel Pociao 
Übersetzt aus dem Englischen von Roberto de Hollanda 
Western, Zeizgenössische Literatur, Tragödie in Doolough, Hungersnot Irland, Besiedlung Amerika
Taschenbuch, 368 Seiten 
Diogenes, 2024 




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman




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