Direkt zum Hauptbereich

Sanfte Einführung ins Chaos von Marta Orriols - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing






Sanfte Einführung ins Chaos 


von Marta Orriols


Der Anfang: 
Noch verspürten sie das Bedürfnis, einander so nahe wie möglich zu sein. Wenn sie zusammen durch die Straßen gingen, mussten sie oft über sich selbst lachen. Es war unübersehbar, dass sie zusammengehörten: Sein Arm lag auf ihrer Schulter, ihrer um seine Taille, und bei dem Versuch, in ihrer überschäumenden Freude einen gemeinsamen Takt zu finden, verhedderten sich ihre Füße hoffnungslos.

Marta und Daniel leben zusammen in einer kleinen Wohnung in Barcelona. Beide sind Anfang 30; sie arbeitet als freie Fotojournalistin, er als Drehbuchautor für TV-Serien. Über Heirat und Kinder haben sie noch nie gesprochen, eigentlich überhaupt nicht über ihre Vorstellungen von der gemeinsamen Zukunft. Und trotz Verhütung ist Marta schwanger. Sie fühlt, dass ein Kind in ihrer derzeitigen Lebenssituation keinen Platz hat. Vielleicht später. Spontan sagt sie: «Ich bin schwanger. Und ich will es nicht bekommen.» Will sie mit Daniel für immer zusammenbleiben? Soll er der Vater ihrer Kinder sein? Viele Fragen, denen sie sich nun stellen muss, über die sie nachdenken muss. Sie organisiert sich einen Termin zum Schwangerschaftsabbruch. Sechs Tage bleiben ihr, eine Entscheidung zu treffen.


Wer darf entscheiden?


‹Du meinst, dass du dich erst mit einem Kind so richtig vollständig fühlst›, fällt sie ihm ins Wort. Sie gießt ihm dampfenden Kaffee in die Tasse, schiebt ihm die Packung Zucker hin. Dani schüttelt vehement den Kopf. Nein, erklärt er, ihm gehe es vielmehr um den Mut, sich auf ein unwiderrufliches Lebensprojekt einzulassen und ihren scheinbar ach so glücklichen Lebensentwurf, in dem nie etwas endgültig oder verbindlich ist, hinter sich zu lassen. Vielleicht sei egoistisch nicht das richtige Wort, fügt er hinzu, vielleicht wäre es angemessener zu sagen, dass Kinder zu kriegen keine Priorität mehr habe, weshalb die meisten Leute in ihrem Alter den Gedanken an Kinder erst bei wirklich rosigen Zukunftsaussichten zulassen. Wir sind feige, Marta.

Daniel hat seinen Vater früh verloren und sich geschworen, ein Kind nie im Stich zu lassen – und nun hat er ein Kind. Marta hat von klein auf von einer selbstbestimmten Zukunft geträumt und gerade die Chance, in einer Berliner Galerie ihren beruflichen Traum zu erfüllen. Beide haben sich bisher von ihrem Leben treiben lassen und beide haben erstmalig eine längere Beziehung, leben erstmals mit einem Partner zusammen. Ist dies der richtige Partner, die richtige Partnerin? Ist es Liebe? Möchte man überhaupt ein Kind bekommen? Gedanken, die jeder von beiden nachgeht. Daniel möchte das Kind haben, er redet von seinem Sohn, überlegt, ob Martha die Entscheidung später vielleicht bereuen würde, denn oft genug ist irgendwann der Zenit überschritten, und eine Schwangerschaft mag sich später nicht einstellen. Ein Kind, wenn nicht jetzt, wann dann?


Wichtige Entscheidungen müssen getroffen werden

Über sechs Tage begleiten wir Daniel und Marta in ihrem Gedanken- und Gefühlschaos - bis zum vereinbarten Termin für den Schwangerschaftsabbruch. In Spanien ist Abtreibung in den ersten vierzehn Wochen einer Schwangerschaft legal und unkompliziert. Die Frau entscheidet selbst über ihren Körper. Daniel protestiert, es sei ja auch sein Kind. Das kommt nicht gut bei den Frauen in seinem Umfeld an. Plötzlich stehen zwei Menschen, die bisher ihr Leben gelebt haben, wie es kommt, vor wichtigen Entscheidungen. Kind oder kein Kind, Barcelona oder ein Umzug nach Berlin? Wie gefestigt ist diese Beziehung? Was kann sie aushalten? Was erwarten sie voneinander? Jeder steckt in seinen Gedanken und Daniel sucht die Aussprache. Doch Marta entzieht sich. Wie werden sie sich entscheiden? Der Roman ist empatisch geschrieben, geht tief in die Charaktere hinein, zwingt auch den Lesenden, mitzudenken. Ein Buch, das begeistert!


Marta Orriols, geboren 1975 in Sabadell, arbeitet als freie Kulturjournalistin für diverse Tageszeitungen, Zeitschriften und Kulturportale und lebt mit ihren beiden Söhnen in Barcelona. Nach einem hochgerühmten Erzählungsband und ihrem 2018 als bester Roman des Jahres ausgezeichneten, in fünfzehn Sprachen übersetzten Romandebüt ›Der Moment zwischen den Zeiten‹ ist ›Sanfte Einführung ins Chaos‹ ihr zweiter Roman.
Marta Orriols 
Sanfte Einführung ins Chaos
Originaltitel: Dolça introducció al caos, 2020 
Aus dem Spanischen übersetzt von Ursula Bachhausen
Zeitgenössische Literatur, Spanische Literatur
Hardcover, 240 Seiten
dtv Verlag, 2022



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Italien: Food. People. Stories von Haya Molcho & Söhne

  Haya Molcho begibt sich mit ihren Söhnen auf eine italienische Reise von Triest bis nach Sizilien, wobei sie lokale Produzent:innen und Köch:innen besuchen, die über die unterschiedlichsten Facetten der italienischen Kochkunst erzählen und uns ihre liebsten Rezepte verraten. Im zweiten Teil der kulinarischen Reise gibt es italenische Rezepte der Familie, typisch Neni. Levantinische Küche trifft auf italienische Originalrezepte; dabei auch traditionelle italienische Gerichte im Original. Reiseliteratur, Kulinarisches mit vielen Rezepten, Italienische Küche, Levante-Küche – Empfehlung. Weiter zur Rezension:   Italien: Food. People. Stories von Haya Molcho & Söhne

Rezension - Dunkle Momente von Elisa Hoven

  Spieldauer: 9 Stunden und 11 Minuten gesprochen von Nina Kunzendorf Eva Herbergen ist Strafverteidigerin mit ganzer Seele. Ihre Aufgabe ist es, Menschen vor Strafe zu bewahren; egal, was sie getan haben. Als Strafverteidiger muss man sich an das Recht halten; man darf seinen Klienten keine Tipps geben, wie sie ihre Tat vertuschen könnten oder sie zu Falschaussagen auffordern. Womit kann ein Strafverteidiger am besten leben, fragte ich mal einen Freund, der diesen Job macht. Keinem Klienten glauben, sagte er. Sie lügen dich alle an. Alle. Und die, die nicht lügen, verschweigen eben die Hälfte; und das ist genauso schlimm. Ich glaube, er hat recht. Denn Eva Herbergergeht dem ein oder anderen auf den Leim. Und sie beschreibt ihre Dämonen, die Fälle, die sie gern im tiefsten Keller verstecken möchte. Neun Fälle, Strafverteidigung, Strafrecht, Recht, Gesetz – ein sehr guter Roman. Weiter zur Rezension:    Dunkle Momente von Elisa Hoven 

Rezension - Mäc Mief und die stinkbesonderen Unterhosen von Carola Becker, Ina Krabbe

  Wer hat die Superschaf-Unterhose geklaut? Finn ist sauer! Jemand hat seine stinkbesonderen Unterhosen von der Leine gestohlen. Sein Freund Mäc Mief muss den Dieb aufspüren, denkt sich Finn. Das schottische Schaf Mäc Mief liebt nichts mehr, als auf seiner Weide zu stehen und in Ruhe saftiges Gras zu fressen. Aber für seinen Lieblingsmenschen Finn geht die Spürnase auf die Suche. Gemeinsam mit seiner Freundin, Hütehund Bonnie, versuchen sie a la Sherlock Holms und Watson der Unterhosenbande auf die Spur zu kommen.  Weiter zur Rezension:    Mäc Mief und die stinkbesonderen Unterhosen von Carola Becker, Ina Krabbe

Rezension - Die Schanze von Lars Menz

  Ein nächtliches Dorf, nur die beleuchtete Skischanze ragt empor. Mit einem elektrischen Viehtreiber wird ein Mann zur Schanze getrieben. Am höchsten Punkt stößt ihn sein Peiniger hinab – ein Seil um den Hals. Es beginnt relativ spannend, allerdings ausufernd grausam. Nach der Eingangsszene werden einige Personen vorgestellt, ihre Beziehung untereinander, Erinnerungen an damals. Eigentlich ist nichts passiert, als man bei Seite 250 von 300 angelangt ist. Literarisch ein wenig ungelenk, spannungslos; es ermittelt auch niemand. Schnell glaubt man zu wissen, wer der Mörder ist – und am Ende ist es wirklich genau diese Person. Zu offensichtlich gleich am Anfang ein Hinweis. Der Grund ist nicht erarbeitet, wirkt dann völlig deplatziert. Den Thriller kann sich sparen; zumal eine Message gibt es nicht. Weiter zur Rezension:    Die Schanze von Lars Menz

Rezension - Zipfelmaus und die grandiose Gartenschule von Uwe Becker und Ina Krabbe

  Im Schrebergarten von Frau Bienenstich herrscht helle Aufregung: Maulwurf schlägt vor, dass alle zur Schule gehen sollen, um lesen und schreiben zu lernen. Zipfelmaus wohnt in Frau Bienenstichs Garten in einem Puppenhaus, das im Gartenhäuschen steht. Die Zipfelmaus sitzt sie in ihrem Schaukelstuhl, futtert Haferflocken und Rosinen und lässt sich die Sonne auf das Fell scheinen. Nun will sie den Tieren das Lesen und Schreiben beibringen. Zum Vorlesen ab 6 Jahren, zum selbstlesen ab 2. Klasse. Weiter zur Rezension:    Zipfelmaus und die grandiose Gartenschule von Uwe Becker und Ina Krabbe

Rezension - Mut tut gut von Ulrike Marten-Öchsner und Emma Öchsner

  Habe ich ein Bilderbuch in der Hand, fange ich sogleich an zu blättern, um die Illustrationen aufzusaugen. Der erste Eindruck – denn ein Bilderbuch lebt von seinen Bildern. Und dies hier, ist das Erste seit Jahren, das mich völlig enttäuscht hat. Aber von vorn. Die kleine Maus Anton besucht die Großeltern. Während sie gemeinsam auf der Terrasse sitzen, pustet der Wind die Waldzeitung vom Tisch. Anton springt auf, ist dabei, die Seiten wieder einzufangen, liefert den Zuschauern am Gartenzaun ein belustigendes Schauspiel. Bilderbuch ab 4 Jahren. Weiter zur Rezension:  Mut tut gut von Ulrike Marten-Öchsner und Emma Öchsner 

Rezension - #Erstkontakt von Bruno Duhamel

  Doug, ein ehemaliger Fotograf lebt von der Öffentlichkeit zurückgezogen in den schottischen Highlands. Niemand liked seine Fotos, er ist frustriert, darum hat er seit 17 Monaten nichts veröffentlicht. Doch dann fotografiert er durch Zufall am See vor seiner Haustür ein seltsames Wesen – und teilt den Schnappschuss im sozialen Netzwerk «Twister». Danach geht er duschen, kommt zurück, kann es nicht fassen: «150.237 Personen haben auf ihren Post reagiert; 348.069 mal geteilt». Sofort bereut er seinen Post. Er ahnt, was nun geschehen wird, er hat Büchse die Pandora geöffnet … Ein herrlicher Comic, Graphic Novel, fast ein Cartoon, nimmt mit schwarzem Humor Social Media und Aktivist:innen diverser Gruppen auf die Schippe. Weiter zur Rezension:    #Erstkontakt von Bruno Duhamel

Rezension - Das Alibi von Juan Pablo Villalobos

Juan führt eine gute Ehe mit der «Brasilianerin», es läuft problemlos in bester Eintracht, die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, Geldsorgen hat er keine – er fühlt sich pudelwohl in Barcelona. Doch worüber soll der Schriftsteller, der über das Alltägliche schreibt, jetzt bloß schreiben? Wenn man schreibt, benötigt man einen Konflikt. Nur wo soll man den hernehmen, wenn es gar keinen gibt. Doch keine Angst, Konflikte lauern auf der Straße. Eine Parodie auf das Schreiben, eine Satire, die so richtig viel Spaß macht! Autofiktion gekonnt mit viel Humor gesetzt – einfach lesen! Weiter zur Rezension:    Das Alibi von Juan Pablo Villalobos

Rezension - Romina Casagrande Feuer auf den Bergen

  Mächtig sind die Berge, hart ist das Leben der Landwirte an der Grenze zwischen Italien und Österreich. Luce lebt in den späten Siebzigern mit ihrem Vater und Bruder versteckt im Wald. Nachts riskieren die Männer auf alten Schmugglerpfaden ihr Leben, doch die Welt verändert sich schnell. – Der Junge mit dem Wolfshund, der sich Hase nennt, der mit dem Auto verunfallte, will nicht zurück nach Hause. Er glaubt, er kann im Wald überleben; bloß nicht in ein Heim gesteckt werden. Zunächst klappt das Überleben in einer Höhle, doch im Winter wird es schwierig; er bricht in eine alte Hütte ein. Luces Familie gehört dieses Haus. Sie greifen greift ihn auf – und er darf bei ihnen bleiben. Guter Heimatroman zum Thema Freiheitskampf für Tirol. Weiter zur Rezension:    Feuer auf den Bergen von Romina Casagrande