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Oracle von Ursula Poznanski - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Oracle 


von Ursula Poznanski


Als Kind hat Julian merkwürdige Wahrnehmungen, Menschen, deren Körperteile mit Farben und Symbolen verdeckt sind, die ihm Angst machen. Fehlschaltungen im Gehirn, sagt seine Therapeutin, bedeutungslose Trugbilder. Und mit den richtigen Medikamenten, die man bei Schizophrenie verordnet, sind sie bald auch verschwunden. Doch nun ist Julian erwachsen, will allein in die Welt hinaus, seiner behüteten Kindheit entschlüpfen. Während seines Studiums möchte er nicht daheim wohnen, sondern im Wohnheim, so wie alle Studenten. Und er entscheidet sich dafür, die Medikamente abzusetzen. Er hat sich heute im Griff, meint, damit umgehen zu können. Doch kaum im Wohnheim angekommen, nimmt er an Personen Farben wahr, bei denen er Gefahr spürt … Das kann nicht sein! 


Ein Fluch oder ein Segen?

Was wäre, wenn du in die die nahe Zukunft schauen könntest? Menschen retten, aber nicht genau weißt, was mit ihnen passieren könnte? Als Kind konnte Julian manche Mitschüler niemals vollständig sehen, Teile ihrer Körper waren verschwommen mit nebligen Farben überdeckt. Wie Verenas Beine, die mit einer roten Wolke verhüllt waren, oder Kais Gesicht, dem dunkler Rauch aus Nase und Ohren quollen. Ein verstörendes Bild für den Jungen, der gemobbt wurde, den die Eltern später zu Hause unterrichten ließen. Nun bekommt Julian die Einladung zu einem Klassentreffen, entschließt sich, hinzugehen. Verena sitzt heute im Rollstuhl, ein Sportunfall und der, bei dem er einen schwarzen Keil auf der Brust gesehen hatte, ist verstorben. Er hatte einen Unfall. Verdammt! Sollte er mit seinen Farben Ereignisse voraussehen können? Wenn das wahr ist, dann könnte er Menschen vor Gefahren warnen und sie retten. Doch das gestaltet sich schwierig, weil er ja nicht genau weiß, was passieren wird auf der einen Seite – und andererseits wird man ihn wieder für verrückt erklären, ihn als Freak hinstellen. Ein Fluch oder ein Segen?


Julian steht im Mittelpunkt der Öffentlichkeit

Julian entscheidet sich, seine Mitstudenten retten, und es funktioniert. Das ruft aber Reaktionen hervor, denn Menschen reden über das, was geschehen ist. Seine Freunde wollen ihn schützen, sind zwar zunächst ungläubig, dann fasziniert, vertuschen das nach Außen als Zufall und Missverständnis und schirmen ihn vor der Presse ab, die sensationslustig sofort vor der Tür steht. Seine Psychologin hält das für ausgemachten Quatsch, hält das für Zufall, versucht Julian davon zu überzeugen, wieder die Medikamente einzunehmen, um die Wahnvorstellungen in den Griff zu bekommen. Und ein ehemaliger Klassenkamerad Kai, der nun ahnt, was hier passiert, will Julian vermarkten und hat bereits sinnbildlich die Dollarzeichen in den Augen – der dem graue Schwaden aus den Augen quellen, der einst Julian am heftigsten quälte. 


Das Ende ein wenig blass

Ein spannendes Jugendbuch, das sich immer weiter im Spannungsaufbau steigert. Allerdings nicht der beste Jugendroman von Ursula Poznanski – sie war schon spannender, überzeugender und besser im in der Figurenzeichnung, die hier recht blass gezeichnet sind. Die Frage, die sich hier stellt, ist es gut, in die Zukunft zu schauen? Welche Belastung würde das für einen Seher haben? Hat das überhaupt einen Sinn? Und welche Mechanismen setzen sich in Gang, wenn du als eine sehr besondere Person entdeckt wirst? Und das Ende … das war mir ein wenig banal. Trotz aller Kritik, eben gemessen an den anderen Romanen der Autorin, ein spannender, unterhaltsamer Jugendroman mit Mystikfaktor. Der Loewe Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 14 Jahren – passt.


Ursula Poznanski ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen. Ihr Debüt Erebos, erschienen 2010, erhielt zahlreiche Auszeichnungen (u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis) und machte die Autorin international bekannt. Inzwischen schreibt sie auch Thriller für Erwachsene, die genauso regelmäßig auf den Bestsellerlisten zu finden sind wie ihre Jugendbücher. Sie lebt mit ihrer Familie im Süden von Wien.


Ursula Poznanski
Oracle
Jugendroman, Jugendbuch, Mystik, Österreichische Literatur, Kinder- und Jugendliteratur
Hardcover, ‎ 432 Seiten
Loewe Verlag, 2023
Altersempfehlung: ab 14 Jahren





Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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