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Nur die Tiere von Colin Niel - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Nur die Tiere 


von Colin Niel


Der Anfang: 

Die Leute wollen immer einen Anfang. Sie bilden sich ein, wenn eine Geschichte irgendwo anfängt, muss sie auch ein Ende haben. Dann ist das Unwetter vorbei, sie können in ihren Alltag zurück, noch mal davon gekommen. Ist ja auch verständlich. Und irgendwie beunruhigend. Sowas braucht man auch, denn das, was in dem Jahr passiert ist, hat so manchen verunsichert.


Évelyne Ducat verschwindet eines Tages spurlos in einer Kleinstadt im französischen Zentralmassiv. Sie wandert gern allein – möglicherweise hat das schlechte Wetter sie erwischt und sie ist abgestürzt oder erfroren. Suchtrupps werden losgeschickt. Oder hat ihr Mann sie getötet? Vielleicht hatte sie ihn und dieses Kaff einfach satt und ist abgehauen. Gerüchte kursieren durch die Gassen.


Alice auf Joseph - wie passt das zusammen?

Eine französische Kleinstadt im ländlichen Gebiet, abgelegen, abgehängt. Die Zentralfigur ist zunächst die Sozialarbeiterin Alice, verheiratet mit einem Bauern, Michel, der Rinder züchtet, sich die Nächte im Stall um die Ohren schlägt, wenn Geburten anstehen. Überhaupt scheint er den Stall Alice vorzuziehen. Die Ehe ist schon lange nicht mehr glücklich, heute klingt sie fast wie ein Arrangement. Alice betreut die Bauern der Umgebung, die häufig mit Geldnöten kämpfen, denen die Organisation über den Kopf wächst, die mit psychischen Problemen belastet sind. Sie bringt die Buchhaltung auf die Reihe, gibt Schuldenberatung, sorgt für medizinische Hilfe, für Haushaltshilfen usw. Bauern haben es nicht einfach, denn wer will schon einen armen Landwirt heiraten, der Tag und Nacht im Stall verbringt in einem Kaff in den Bergen? Bei ihrer Arbeit trifft Alice auf Joseph, den Schafzüchter, der sie magisch anzieht. Sie bringt seinen Papierkrieg auf Vordermann, stabilisiert ihn, eine Liaison entsteht. Plötzlich ist auch Alices Mann Michel verschwunden ... 


Hier lügt sich jeder in die Tasche

Und da ist Maribé, die Fremde, die eines Tages im Städtchen auftauchte – einfach so. Wer zieht freiwillig allein in ein solches Kaff, um Kleider umzunähen, sie auf dem Markt zu verkaufen? Alte Bekleidung aufgepeppt mit ein paar Veränderungen hier und da – Maribé mit den aufgeblasenen Brüsten ist ein bunter Vogel, der alle Blicke auf sich zieht. In jedem Kapitel kommt eine andere Person eine Stimme, Alice, ihr Mann, Joseph, Maribé, und noch eine Person – die Protagonisten wechseln. Die Geschichte ist tragisch, mit sehr viel Raffinesse konstruiert. Und wenn jemand meint, er käme dem Fall näher – im nächsten Kapitel wird umgerissen, was sich der Leser an Vermutungen zusammengebastelt hat. Brillant konstruiert geht Colin Niel in die Tiefe der Figuren, legt sie offen, Zwiebelhaut für Zwiebelhaut gepellt. Fünf Sichtweisen auf eine Geschichte, auf einen Ort, fünf sozial-gesellschaftlich auseinanderliegende Typen, die sich alle selbst etwas in die Tasche lügen. Doch zwei Dinge haben sie gemeinsam: Sie sind einsam und sie dürsten nach Liebe. Die fünfte Stimme ist genial eingeflochten – mehr wird nicht verraten – selbst lesen! Ist Évelyne Ducat tot? Wenn ja, war es Mord? Wer ist der Täter? Oder, wer ist Schuld? Oder ist Évelyne schlicht einfach mal weg – und wenn ja, wie lange?


Hier läuft es aus dem Ruder

Die Sozialarbeiterin holte mich am Tor ein. Wir sahen uns zum ersten Mal, seitdem ich die Tote bei mir gefunden hatte. Ich erkannte sie nicht wieder. Sie war sauer, folgt mir auf Schritt und Tritt. Wieder fing sie mit der Fragerei an und ich hatte keine Lust darauf. Wir müssen reden, sagte sie immer wieder, als ob reden irgendetwas bringen würde. Dieses Benehmen gefiel mir gar nicht, ich verstand immer weniger, was sie von mir wollte, warum sie das tat.


Ein Thriller, den man unbedingt lesen sollte – denn es ist schlicht ein genialer Roman. Auch wenn er der Kriminalliteratur zuzuschreiben ist, werden Literaturliebhaber ihre Freude an dem Buch haben. Letztendlich ist es Milieustudie der armen ländlichen Regionen in der Provence – eine Suche nach Liebe und Anerkennung von Menschen, die in einem Sog von Einsamkeit vor die Hunde gehen. Missverständnisse, dumme Zufälle – hier läuft es aus dem Ruder. Ein eindringlicher Roman mit unterschwelligem Humor, eine Groteske! Ich sage nur: Unbedingt lesen!


Colin Niel, geboren 1976 in Clamart, ist eine der großen Stimmen des französischen Noir-Roman. Nach einem Studium der Evolutionsbiologie und Ökologie arbeitete er zunächst als Agrar- und Forstingenieur im Bereich Biodiversität, u.a. mehrere Jahre in Französisch-Guayana. Mit einer vierteiligen guayanischen Serie, die vielfach ausgezeichnet wurde, gelang ihm der Durchbruch als Autor. 2017 erhielt er für Seules les bêtes u.a. den Prix Landerneau Polar und den Prix Polar en séries. Der Roman «Nur die Tiere» wurde von Dominik Moll fürs Kino verfilmt. Heute lebt Colin Niel als Schriftsteller in Marseille.



Colin Niel
Nur die Tiere
Originaltitel: Seules les bêtes
Aus dem Französischen übersetzt von Anne Thomas
Zeitgenössische Literatur, Kriminalroman, Thriller, Noir
Softcover, 286 Seiten
Lenos Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
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Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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