Direkt zum Hauptbereich

Nacht über Tanger von Christine Mangan - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Nacht über Tanger 

von Christine Mangan

Sprecher: Bibiana Beglau, Friederike KempterUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 9 Std. und 53 Min.


Im Jahr 1912 verlor Marokko seine Unabhängigkeit und wurde zwischen Frankreich und Spanien geteilt. Der Status von Tanger blieb zunächst ungeklärt. Im Jahr 1923 wurde die Stadt und ein kleines Gebiet um sie herum zur »Internationalen Zone von Tanger« erklärt, mit umfassenden Steuerprivilegien und von acht Mächten verwaltet: Frankreich, Spanien, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Portugal, Sowjetunion und ab 1928 auch Italien. Die Stadt, an der Nordwestspitze Marokkos gelegen, war zu der Zeit stark bevölkert von Europäern, eine blühende Metropole. Geheimdienste der ganzen Welt trieben sich hier herum, ein Paradies für Schmuggler, Betrüger und Aussteiger. Im Oktober 1956 wurde Tanger an Marokko zurückgegeben, das nun vereint wieder unabhängig war. Ein historischer Hintergrund, den man für diesen Roman berücksichtigen sollte, da das Geschehen in den 1950er Jahren spielt.

Die Beziehung, die Alice und ich innerhalb nur weniger Wochen aufbauten, die gegenseitige Sympathie, die wir empfanden - sie ging über jegliche vernünftige Definition hinaus.

Wem soll der Leser trauen?

Alice und Lucy teilen sich ein Zimmer an einem College im amerikanischen Vermont. Lucy, in armen Verhältnissen geboren, dank eines Stipendiums an der Schule, ist fasziniert von Alice, die aus gutem Hause stammt, die ein Vermögen von ihren verstorbenen Eltern geerbt hat. Christine Mangan erzählt die Geschichte aus zwei Ichperspektiven und schnell ist dem Leser klar, er hat es mit zwei unzuverlässigen Erzählerinnen zu tun.

Zwei grundverschiedene Frauen

Der Roman beginnt in Tanger. Alice hatte gleich nach dem Abschluss geheiratet und war mit ihrem Mann John nach Marokko gezogen. John ist ein typischer Lebemann von altem Adel, der das ausschweifende Leben in Tanger genießt, wohingegen Alice in depressiver Zurückgezogenheit ihre Tage in der Wohnung verbringt, sich irgendwann nicht einmal mehr zum Einkaufen aus dem Haus wagt. Und da steht Lucy vor der Tür: Einfach mal hereinschauen, die alte Freundin besuchen! Alice ist überrascht, nicht wirklich amused, aber sie schafft es auch nicht, die sogenannte Freundin abzuweisen, die in ihrer übergriffigen Art sich bei dem jungen Paar einnistet. John weiß nichts über Lucy und begegnet ihr von der ersten Sekunde an schroff, demonstrativ zeigend, dass sie bitte hingehen möge, wo der Pfeffer wächst.

Lucy wäre gern Alice

Eine toxische Beziehung zwischen zwei Frauen, die im Rückblick zeigt, was damals in Vermont passiert sein mag. Mag ist das richtige Wort, denn wem soll man trauen? Alice, die weit weggehen wollte, um zu vergessen? John kam das reiche, hübsche Mädchen gerade recht, denn er verbrät ihr Geld, wie er schon sein eigenes Erbe verschleuderte. Ein Sohn aus gutem Haus, der gern teure Kleidung trägt, es sich gut gehen lässt. Irgendwo scheint er sogar einen Job zu haben, er geht ins Büro, was auch immer er dort macht, Alice hat keine Ahnung. Sie weiß auch nichts von Johns Freundin. Alice ist krank, eine Frau, die sich einschließt, sich ihren Depressionen hingibt. Lucy liebt Alice, sie will bei ihr sein, Alice für sich allein haben - sie wäre gern Alice. Lucy ist intrigant, durchtrieben und ihr ist alles recht, um ans Ziel zu kommen … schon damals, in Vermont … Wiederholt sich hier eine Geschichte?

Doch eher ein Psychothriller

Christine Mangan fängt die damalige Zeit von Tanger gut ein: die Kasbah, Märkte, Düfte, Bars und Cafés, das internationale Publikum, geheimnisvoll, ausschweifend und durchsetzt von Kriminalität. Das Buch ist als Roman ausgewiesen, doch ich würde es den Psychothrillern zuschreiben, denn Kriminelles passiert genug. Passiert das alles wirklich? Wer ist Alice und wer ist Lucy? Ein spannender Roman, bei dem Klischees komischerweise nicht stören. Das Hörbuch wird von zwei Frauenstimmen gelesen, was dem Ganzen noch mehr Intensität gibt.

Christine Mangan, geboren 1982, hat Creative Writing studiert und am University College Dublin zur Gothic Literature promoviert. »Nacht über Tanger« ist ihr erster Roman und hat sich in 20 Länder verkauft. Die Filmrechte gingen an die Produktionsfirma von George Clooney.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P