Direkt zum Hauptbereich

Im Herzen des Sahel von Djaïli Amadou Amal - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Im Herzen des Sahel 


von Djaïli Amadou Amal


‹Diese Leute aus der Stadt … Du weißt, wie die sind! Was, wenn sie vergewaltigt wird? Oder noch schlimmeres passiert?›

‹Dass ein Mann sie entführt, vergewaltigt und zur Ehe zwingt, kann ihr genausogut hier passieren, und du könntest nichts dagegen tun. Die Vergewaltigung hat Tradition, und je länger sie hierbleibt, um so größer das Risiko!›


Mir hatte der Roman «Die ungeduldigen Frauen » der Autorin sehr gut gefallen, der 2020 mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet wurde. Hier ging es um die Frauen in muslimischen Großfamilien in der mittelafrikanischen Sahelzone, die täglich um den Platz in der Familienhierarchie kämpfen müssen, verheiratet werden, wenig selbstbestimmt leben können. Der vorliegende Roman behandelt einen anderen Teil dieser Häuser, befasst sich mit der Schar der Bediensteten. Kondem, Mutter von vier Kindern schlägt sich mehr schlecht als recht durch das Leben im nördlichen Kamerun, denn das Land, das sie beackert, gibt kaum noch etwas her. Der Klimawandel dörrt den Boden aus, lässt die Brunnen versiegen. Ihr Mann ist losgezogen, sich irgendwo eine Arbeit zu suchen. Die Bauern hier sind Christen, leben in täglicher Angst vor den Milizen der Boko Haram, die immer wieder die Dörfer überfallen, töten, Frauen und Kinder entführen.


Eine Arbeit für Menschen zweiter Klasse

Faydé, die fünfzehnjährige Tochter von Kondem kann nicht mehr zur Schule gehen, weil die Mutter das Geld nicht aufbringen kann. So entschließt sie sich, das zu tun, was alle jungen Frauen machen: Sie geht in die Stadt, um als Hausangestellte in einer Großfamilie zu arbeiten. Kondem ist das nicht recht, denn sie selbst hat als junge Frau diesen Weg gewählt. Sie weiß, wie gefährlich dieser Job für junge Frauen ist, wie hart die Arbeit und welchen Erniedrigungen man ausgesetzt ist. Mit «Glücksfund» (Faydé übersetzt) im Bauch war sie in das Dorf zurückgekehrt. Faydé hat Glück, sie landet in einer freundlichen Familie, und sie schläft in einem Haus in der Stadt mit befreundeten Mädchen aus dem Dorf, kann am Abend ausgehen. Sie muss zwar kuschen bei ihren Arbeitgebern, wie überall, doch man begegnet ihr angemessen, wie wird nicht angeschrien oder geschlagen. Alles ist neu für Faydé, der ganze Luxus und Überfluss: Verschwendung von Wasser, das aus der Leitung kommt, Massen an Geschirr, Reinigungsmittel, die Pracht an Lebensmitteln, Kleidung und Möbeln. Wir lernen ihr Leben kennen, die kleinen Tricks, mit denen die Hausangestellten Nahrung abzwacken, um sie ihren Familien mitzubringen. Hin und wieder fahren die Mädchen am Wochenende mit dem Bus nach Hause, versorgen mit ihrem Gehalt die Familien im Dorf.


Wie soll sie Leila erklären, dass nicht mal 20 Kilometer weiter Menschen verdursten, dass das hier so selbstverständliche Wasser dort ein seltenes Gut von unschätzbarem Wert is? Woher soll Leila wissen, wie es ist, dabei zuzusehen, wie die Brunnen im Dorf mit der beginnenden Trockenzeit einer nach dem anderen versiegen? Wie kann sie ihr, die dreimal täglich duscht, erklären, dass sie im Dorf für das Waschen und Wäschewaschen zum ausgetrockneten Sumpf gehen und dort graben und graben, in der Hoffnung unter dem Sand auf Wasser zu stoßen? Dafür gibt es keine Worte.


Partiarische und feudale Strukturen

Faydé ist fast zufrieden mit ihrem Leben, bis sie sich verliebt, geliebt wird … eine Liebe, die nicht sein darf! Auch machen nun die Boko Haram der Stadt schwer zu schaffen, Grenzen werden ringsherum geschlossen, das feine Leben der Familien hat einen Knacks bekommen. Es ist ein feudalistisches System, bei dem die muslimischen Familien das Sagen haben, die Christen werden als Dienerschaft ausgenutzt, werden als Menschen zweiter Klasse gesehen. Doch auch in den Familien gibt es klare Strukturen: Kinder haben zu gehorchen, den zu heiraten, den die Eltern bestimmen, die Erstfrau im Haus hat im Haushalt das Sagen, die anderen Ehefrauen buhlen um ihre Plätze, Streitereien sind an der Tagesordnung. Wir tauchen in eine uns unbekannte Gesellschaft ein, das Leben in der Sahelzone. Frauen die geduldig sein sollen, die sich beugen müssen, sich den Entscheidungen der Familie unterwerfen – Menschen, die täglich ums nackte Überleben kämpfen müssen, denen das Wasser zum Leben fehlt, partiarische und feudale Strukturen, Frauen, die für ihre Rechte kämpfen. Ein Roman, der über die Tischkante schaut, spannend das kamerunische Leben zeigt. Meine Empfehlung dafür. «Die ungeduldigen Frauen » war für mich allerdings einen Schlag besser, dichter dran an den Figuren, der Geschichte. In diesem Band wird viel erklärt über Sitten Gebräuche, das Leben in den Dörfern, in der Stadt, was natürlich auch einen Reiz für sich hat. Es ist zwar ein Allage-Roman, aber sehr gut als Jugendroman ab 14 Jahren geeignet.


Djaïli Amadou Amal, Autorin und Frauenrechtsaktivistin, wurde als muslimische Fulbe mit 17 Jahren zwangsverheiratet und hat alle Tiefen und Formen der Unterdrückung einer Frau aus der Sahelzone durchlebt. 2012 gründete sie die Vereinigung »Femmes du Sahel«, die sich für die Bildung von Frauen und gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzt. Ihr Buch »Die ungeduldigen Frauen« wurde 2019 mit dem Prix Orange du Livre en Afrique und 2020 mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet. In Frankreich 2021 zur Autorin des Jahres gewählt, erhielt sie 2022 die Ehrendoktorwürde der Sorbonne. Amadou Amal gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Kameruns.



Djaïli Amadou Amal
Im Herzen des Sahel 
Originaltitel: Coer du Sahel, 2022
Aus dem Französischen übersetzt von Ela zum Winkel
Zeitgenössische Literatur, Kamerun, afrikanische Literatur, Französische Literatur
Jugendroman ab 14 Jahren, Allage
Klappenbroschur, 262 Seiten
Orlanda Verlag, 2023



Die ungeduldigen Frauen von Djaïli Amadou Amal

Eine Geschichte aus dem heutigen Kamerun, eine muslimisch geprägte Gesellschaft der Fulben – ein Patriarchat schlechthin. Drei Frauen, drei Geschichten, drei miteinander verbundene Schicksale. Ramla und Hindou sind Schwestern, werden am gleichen Tag verheiratet. Safira, die 20 Jahre lang die alleinige Ehefrau war, bekommt Ramla vor die Nase gesetzt. Hindou wird gezwungen, ihren Cousin zu heiraten, einen nichtsnutzigen Säufer. Pflichtlektüre für Schulen – so meine Meinung. Dieser autobiografisch geprägte Jugendroman, ein  Coming-of-Age, ist beileibe nicht nur Lesestoff für Jugendliche. Ja, man liest das alles mit Schnappatmung. Denn der Stoff handelt nicht von längst vergangenen Zeiten – und nicht nur im Kamerun leben Frauen unter diesen Verhältnissen; es ist schlicht zeitgenössische Literatur. Ein Text, der unter die Haut geht und in die Magenkuhle haut. Unbedingt Lesen!

Weiter zur Rezension:   Die ungeduldigen Frauen von Djaïli Amadou Amal


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Drainting: Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger

  Als Drainting bezeichnet Felix Scheinberger die intuitive Kombination von Malen und Zeichnen. Damit hebt er die jahrhundertealte heute vollkommen unnötige Trennung zwischen Flächen malen und Linien zeichnen auf und verbindet das Beste aus beiden Welten. Früher machten wir einen Unterschied zwischen Zeichnen und Malen und damit fingen die Schwierigkeiten an. Wo es nämlich gar keine Umrisslinien gibt, gilt es, diese abstrakt zu (er)finden. Die intuitive Kombination aus Zeichnen (Drawing) und Malen (Painting) garantiert gute Ergebnisse und unendlichen Spaß! Eine gute Einführung erklärt das Knowhow und Grundsätzliches zum Malen und Zeichnen – gute Ideen, die man selbst umsetzen kann. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

  Gesprochen von Hans Jürgen Stockerl Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 7 Min. Wir schreiben das Jahr 1683. Der junge Engländer Obediah Chalon, Spekulant, Händler und Filou, hat sich in London gerade mit der Investition von Nelken verspekuliert und eine Menge Leute um ihr Geld gebracht, das mit gefälschten Wechseln. Conrad de Grebber, Direktoriumsmitglied der Vereinigten Ostindischen Compagnie bietet Obediah  die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen: Er wird auf eine geheime Reise geschickt, um etwas zu stehlen: Kaffeepflanzen. Spannender Abenteuerroman rund um den Kaffee. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

Rezension - Killer Potential von Hannah Deitch

  Als Evie Gordon an einem Tag bei den Victors klingeln will, steht die Tür offen. Sie ruft, niemand antwortet. Dann findet sie Mr Victor tot im Pool schwimmend, Mrs Victor liegt mit zermatschtem Schädel tot im Wohnzimmer. Das alles muss gerade passiert sein, Evie hat Angst, will das Haus verlassen, als sie leise Hilferufe hört. In einer Kammer unter der Treppe findet sie eine gefesselte Frau. Sie befreit sie. In dem Moment kommt die Tochter nach Hause, schreit entsetzt der Szenerie, geht auf Evie los, die in ihrer Not dem Mädchen eine Lampe über den Kopf zieht. In Panik verschwindet Evie mit der Unbekannten – ein Roadmovie beginnt. Der Roman konnte mich leider nicht überzeugen. Weiter zur Rezension:   Killer Potential von Hannah Deitch

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis

  (Detektivbüro LasseMaja, Bd. 37)  Es gibt hochfliegende Pläne im Ort Valleby: Ein Astronaut macht mit seiner Raumkapsel in der Kleinstadt Station und will als Nächstes den Planeten Neptun ansteuern. Und laut tönt er, er suche Astronaut:innen, die ihn begleiten. Bewerber will er einem Astronauten-Test unterziehen, danach bestimmt er, wer mitfliegen darf! Natürlich benötigt er auch Spenden für sein Projekt. Die Detektiv:innen Lasse und Maja hören genau zu. Und bei dem, was der Mann so erzählt, kommt schnell der Verdacht, dass an der Geschichte etwas faul ist und der Typ ein Betrüger ist. Das teilen sie dem Dorfpolizisten mit – doch der hat gerade keine Zeit für sie. Ein Dieb geht um … Spannender, witziger Kinderkrimi ab 8 Jahren, Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis 

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Waldpilze sind einfach zum Verlieben! Und welche sich zum Essen eignen, erfahren wir in diesem Buch – einschließlich mit Rezepten. Pflücken, zubereiten, konservieren. Flexitarier, Vegetarier und Veganer lieben sie als hochwertigen Fleischersatz. Die Pilzexperten Gerhard Schuster und Christine Schneider zeigen, welche Pilze man wie zubereitet, damit sie zum Hochgenuss werden. Nebenbei räumen sie auch mit alten Mythen auf. Unter den mehr als 50 Rezeptideen gibt es neben den bewährten Klassikern auch echte Pilzküchen-Überraschungen zu entdecken. Weiter zur Rezension:    Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Rezension - Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt

Bendix, der Häuptling des Keltendorfs Taigh, ist außer sich: Jemand hat seinen Honigtopf gestohlen! Lindis, der Ziehsohn der Dorfdruidin Kundra und dessen Freunde Finn und Veda wollen der Sache auf den Grund gehen. War der Dieb hinter der wertvollen Amphore her oder hinter deren speziellem Inhalt? War es einer der fahrenden Händler? Und dann ist auch noch die kleine Tochter der Sklavin verschwunden! Unter dem Vorwand, fischen gehen zu wollen, machen sich die drei Jugendlichen heimlich auf die Suche nach den Händlern und kommen dabei einem Geheimnis auf die Spur … Weiter zur Rezension:    Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt