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Hauke Haiens Tod von Robert Habeck und Andrea Paluch - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Hauke Haiens Tod 

von Robert Habeck und Andrea Paluch

Gesprochen von: Sandra Ragg
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 5 Std. und 52 Min.



Ich habe dich vor fünfzehn Jahren in ein Kinderheim gebracht…

 

Der Deich bricht. Bei einer Jahrhundertsturmflut an der friesischen Nordseeküste kommt es zur Katastrophe. Unter den Todesopfern sind Hauke Haien, der Erbauer des Deiches, seine Frau Elke und scheinbar auch ihre vierjährige Tochter Wienke, die an einer mentalen Retardierung litt. Iven Johns, der Knecht Hauke Haiens, setzt sich nach Hamburg ab. «Iven war Knecht, Automechaniker und Türsteher bei einem Nachtclub.» Fünfzehn Jahre nach der Unglücksnacht steht sein schlechtes Gewissen plötzlich wieder vor ihm: Wienke. Sie fragt Iven, warum er sie damals ins Heim gegeben hätte, glaubt, Iven wäre ihr Vater.


Die Nordseeküste war gerade von einer schweren Sturmflut getroffen worden. Ein Deich war gebrochen und alles wurde überschwemmt. Ich habe dich gerettet. Dein Vater hieß Hauke Haien und war der Bürgermeister. Deine Mutter hieß Elke. Beide sind in jener Sturmflutnacht ertrunken. Dein Vater kam um, weil er den Deich retten wollte. Deine Mutter ist gestorben, weil sie zu ihm an den Deich rausfuhr. Du bist auf den Namen Wienke getauft. Nicht Elisabeth und auch nicht Schmidt oder sonst wie. Wienke Haien. Und nun rasiere ich mich fertig und dann bringe ich dich zurück.


Wienke lässt nicht locker, sie will zum Ort ihrer Herkunft, herausfinden, wo ihren Eltern abgeblieben sind. Iven beschließt, mit ihr ins Dorf Stegebüll hinter dem Deich zu fahren, um Licht ins Dunkel der Todesnacht zu bringen. Auch er muss sich seiner Vergangenheit stellen. Eine nächtliche Sturmflut an der Nordseeküste, der eine Familie zum Opfer fällt. Eine Überlebende, die herausfinden will, warum ihre Eltern wirklich sterben mussten. Und ein Dorf, das darüber nicht reden will; bis heute nicht. Die naive junge Frau taucht auf, wirbelt sympathisch alles durcheinander. Was will sie hier? Ihr Erbe antreten? Aber die ist doch nicht ganz richtig im Kopf! Wer weiß, wer sie wirklich ist? Es geht in diesem Roman um Identität und Verantwortung. Wienke will wissen, wer sie ist – Iven letztendlich sucht ebenfalls seine Wurzeln. Er war von hier geflohen, hatte sein Versprechen gebrochen, auf Wienke aufzupassen. Er muss sich dem stellen und endlich Verantwortung tragen. Doch irgendwas ist faul in diesem Dorf! Neid und Habgier scheinen im Vordergrund zu stehen. Und was hat es mit der kultigen, religiösen Gruppe auf sich? Sie scheint ein Geheimnis zu verbergen und in der Familie Haien ist eins vergraben. 


Er wälzte die Namen der Toten in seinem Mund. Und plötzlich wusste er, was in dem Monat, in dem Elke Haien schwanger wurde, passiert war.


Dieser Roman ist eine Adaption von Theodor Storms Novelle «Der Schimmelreiter», in Form einer modernen Version – Hauke Haien in unserer Welt. Ein Heimatroman, aber auch ein Thriller, denn hier knistert es von Anfang an und die Geschichte nimmt immer mehr Fahrt auf – Kriminalliteratur; mehr will ich nicht verraten. Wer «Der Schimmelreiter» von Theodor Storm nicht gelesen hat, kann diesen Roman trotzdem genießen. Doch wer den Klassiker kennt, hier zur Erinnerung das Ende: Am 1. November 1756 kommt es zu einer Sturmflut, bei der Ole Peters dem Deichgrafen vorschlägt, den neuen Deich Haiens zu durchzustechen, um den alten Deich zu entlasten und Schlimmeres zu verhindern. Hauke, der das nicht glaubt, reitet mit seinem Schimmel an den neuen Deich hinaus und verbietet dieses Vorhaben, um seinen Koog zu schützen. Doch der alte Deich bricht, und die Wassermengen fluten das Flachland, den alten Koog und das Dorf. Hauke erkennt, dass er durch seine Fehlentscheidung dafür verantwortlich ist. Während seine Familie versucht, ihm mit einem Wagen entgegenzukommen, versinken sie vor Haukes Augen in der Flut und sterben. Erschüttert stürzt er sich auf seinen Schimmel ins Wasser und begeht Suizid. Diese neue Geschichte von Robert Habeck und Andrea Paluch analysiert in der Moderne, was damals wirklich passiert ist. War Haien tatsächlich schuld? Vielleicht starb er aber auch durch ein Komplott der Dorfbewohner? Eine brillante Idee, den Klassiker aufzurollen und eine neue Version daraus zu entwickeln – spannend, kriminell mit einem Schlag Humor, bildstark friesische Nordseeküste zwischen Koogen, Watt, Prielen, Wellen und Möwengekreisch – Klimakatastrophe inbegriffen. Das Buch wurde unter der Regie von Andreas Prochaska 2022 für die ARD verfilmt.



Robert Habeck, Andrea Paluch
Hauke Haiens Tod
Gesprochen von: Sandra Ragg
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 5 Std. und 52 Min.
Heimatroman, Thriller, Kriminalliteratur, Zeitgenössische Literatur
RBmedia Verlag, 2023, Audible
Kiepenheuer & Witsch, 2023, 256 Seiten
S. Fischer Verlag, 2001, 256 Seiten



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