Rezension
von Sabine Ibing
Ein Winter in Paris
von Jean-Philippe Blondel
Der erste Satz: Am Nachmittag kamen wir aus den Ferien zurück.
Durch den Anfang habe ich mich durchgebissen. Der Icherzähler Victor kommt nach Hause, findet einen Brief vor, der mit »Lieber Schriftsteller, gestern Abend habe ich Ihr letztes Buch zu Ende gelesen und möchte Ihnen nun schreiben.« beginnt. Soll ich abbrechen? Ich war nach den ersten Seiten unschlüssig, die ein wenig altbacken daherkamen. Aber es lohnt sich, weiterzulesen, es geht dann doch schnell in die Geschichte hinein.
Plötzlich ein Beben. Das Geräusch von Holz, an dem gerüttelt oder auf das geschlagen wird. …
Da durchschnitt auch schon ein Schrei die Worte, die sich in meinem Kopf bildeten.
Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall. Wir saßen alle kerzengrade da, wie Salzsäulen. …
Jemand war gesprungen.
Nun erinnert Victor sich zurück an die Schulzeit, an seine Vorbereitungsklasse, die berüchtigte »Concours« eines Lycées, die man bestehen muss, um an eine École supérieure zu gelangen, um zur Aufnahmeprüfung einer Eliteuni zugelassen zu werden. Und er erinnert sich an Mathieu, den er zu seinem Geburtstag einladen wollte. Victor, ein Landei aus einfachen Verhältnissen ist an der Schule ein Exot. Normalerweise schaffen es hierher nur Sprösslinge aus gut situierten Verhältnissen, fein gekleidet, galant in Umgangsform und sprachlichem Ausdruck. Alles das fehlt Victor: »kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend«. Trotz des enormen Leistungsdrucks und sadistischen Lehrern wie Clauzet, schafft er es in die nächste Klasse. Endlich zollen ihm einige Respekt für die Noten. Und dann passiert es: Mathieu springt in den Tod. Victor läuft aus der Klasse, ist zuerst bei dem Toten. Ein Augenblick, der sein ganzes Leben prägen wird, obwohl er Mathieu nur oberflächlich kannte – er wollte ihn gerade kennenlernen.
Mit einem Mal existierte ich für sie. Ich war ›Mathieus Freund‹. Das Opfer des Opfers. Eine interessante Rolle. Ich musste weder leugnen noch lügen. Es genügte, wenn ich schwieg und meine Zukunftspläne in die Vergangenheit verlegte.
Nach einem kurzen Aufschauen geht der Schulbetrieb weiter im alten Modus: Lernen bis zum Umfallen – und Clauzet darf weiter seine Schüler quälen. Dann taucht der Vater von Mathieu auf, Patrick Lestaing, er will verstehen, was passiert ist und er freundet sich mit Victor an. Er wird sein väterlicher Freund und öffnet Victor die Türen in die bessere Gesellschaft. Nur will er sie auch durchschreiten? Der Junge Mann ist zerrissen.
Blondel beschreibt ein Bildungssystem der Eliten, in das man nur schwer gelangt, wenn die Eintrittskarte durch Geburt nicht festgelegt ist. Zusätzlich ist es ein brutales Schulsystem. Ein Rückblick nach Jahren, unaufgeregt und sanft geschrieben. Man ist schnell durch mit der Lektüre. Ein Schüler, der nichts in Frage stellt, dem Direktor nicht ehrlich antwortet, als der fragt, ob der Lehrer Clauzet wirklich so schlimm sei. Der auch im Nachhinein nichts in Frage stellt, sich laufend arrangiert. Das Buch ist völlig in Ordnung, aber mir fehlte die Kraft, die Kraft eines Hermann Hesses wie z. B. bei »Unterm Rad«. Die Figuren, mit Distanz gezeichnet, sind mir nicht nahegegangen, sie waren mir irgendwann gleichgültig. Aber das ist meine persönliche Befindlichkeit. Alles in allem ein lesenswertes Buch.
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