Rezension
von Sabine Ibing
Drei Uhr morgens
von Gianrico Carofiglio
Der Anfang: Ich bin jetzt fünfzig, genauso alt wie mein Vater damals. Deshalb dachte ich, über diese zwei Tage und Nächte zu schreiben.
Bei Antoino wird mit circa sieben Jahren erstmals eine leichte Form der Epilepsie diagnostiziert. Später muss er Medikamente nehmen, ist zwar symptomfrei, darf aber kein Fußball spielen usw. Der Spezialist, ein Professor aus Marseille, ist der Meinung, das alles könne ich in der Jugend «herauswachsen». Als der nun junge Mann 18 Jahre alt ist, fährt er mit seinen Vater nach Marseille zu einer neurologischen Untersuchung. Antoino scheint geheilt. Um das zu beweisen, muss er sich einem Stresstest unterziehen. Der Aufenthalt in Marseille wird verlängert: Zwei Tage und zwei Nächte muss er ohne Schlaf verbringen, alle alten Vorsichtsmaßnahmen und Tabletten sind nicht mehr nötig. Kohlensäurehaltige Getränke und Alkohol ist erlaubt.
Eine Annäherung zwischen Vater und Sohn
Obwohl sie meist nicht den Mut haben, es offen zuzugeben, glauben viele Mathematiker gern, alles lasse sich auf Zeichen und Formeln reduzieren. Mehr oder weniger bewusst glaube ich das auch: Das Universum hat eine mathematische Struktur, man muss ihr nur auf die Spur kommen.
Antoino Vater, Mathematikprofessor, hatte früh die Familie verlassen, immer ein freundschaftliches Verhältnis zur Mutter beibehalten. Der Junge war hin und wieder bei ihm am Wochenende. Doch letztendlich sind sie sich fremd. Zwei Tage und zwei Nächte müssen sie sich nun in der fremden Stadt die Zeit totschlagen, ohne zu schlafen. Sie kommen sich näher, auch Marseille, einer Stadt mit vielen Facetten. Es wird für die beiden immer schwieriger, den Wachzustand aufrechtzuerhalten, Erschöpfung macht sich breit. Feine Dialoge zwischen Vater und Sohn schwingen durch den Roman, lassen sie sich gegenseitig entdecken. Marseille, 1983, der Vater setzt sich während einer Jam Session in einer Jazzbar ans Klavier – ein völlig anderer Vater, als der, den Antoino kennt – Jazz eine unbekannte Musikrichtung für den jungen Mann. Kneipen, Restaurants, Strandleben, eine Party in einem verruchten Stadtteil – ein intensives Miteinander. Ein eindrucksvoller Roman für ruhige Stunden zum Genießen.
Wer hätte gedacht, dass Marseille so schöne Ecken hat. Und das mitten in der Stadt›, sagte mein Vater nach einer halben Stunde Fahrt und betrachtete die weißen und ockerfarbenen Klippen, die schwindelerregend steil ins Meer abfielen.
Gianrico Carofiglio ist 1961 in Bari geboren, war viele Jahre Antimafia-Staatsanwalt in Bari, 2007 Berater des italienischen Parlaments im Bereich organisierte Kriminalität, 2008–2013 Senator. Autor zahlreicher preisgekrönter Krimis, die in 24 Sprachen übersetzt wurden.
Gianrico Carofiglio
Drei Uhr morgens
Originaltitel: Le tre del mattino, 2017 bei Giulio Einaudi editore
Übersetzt aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Roman
Hardcover, 186 Seiten
Folio Verlag, 2019
Zeitgenössische Literatur
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