Direkt zum Hauptbereich

Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer von Francesca Maria Benvenuto - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing






Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer 


von Francesca Maria Benvenuto



Ich bin erst fünfzehn und noch zweieinhalb Jahre hier, Tag für Tag, mit den anderen Minderjährigen und dem Meer. Und danach, genauer gesagt am 3. August 1994, steckt ihr mich nach Poggioreale, Direttò, das wisst ihr genauso gut wie ich! So steht’s geschrieben, und was geschrieben steht, ist immer beschissen. Das ist also euer Geschenk, wenn ich volljährig bin. Das Meer in Nisida ist wirklich zu nix zu gebrauchen.

Der fünfzehnjährige Zeno sitzt im Jahr 1991 auf der kleinen Insel Nisida im Jugendgefängnis ein, weil er ein Mörder ist. Er kann nicht schwimmen, und den Blick aus seiner Zelle über das unendliche, unüberwindbare Meer verabscheut er. Als ihm seine Lehrerin Anregungen zum Nachdenken über sein Leben gibt, hängt daran die Aufgabe, alles niederzuschreiben. Denn seine Rechtschreibung hat er im Unterricht bereits verbessern können. Als Belohnung winkt ein Freigang über Weihnachten, zwei Tage bei seiner Mutter verbringen zu dürfen. Er legt los, seine Gedanken auf Papier zu bringen, in seiner einfachen, derben Sprache. Dies ist sein Bericht. Zeno ist in Forcella aufgewachsen, in einem der Quartieri in Napoli, in denen die Camorra so allgegenwärtig ist, wie die Armut. Als sein krimineller und prügelnder Vater ins Gefängnis kommt, wird der Zehnjährige zum Mann im Haus. Denn obwohl seine Mutter anschaffen geht, reicht das Geld nicht aus, um ihn und seine Schwester durchzubringen. Zeno geht klauen und bald bietet ihm ein kleiner Capo an, für ihn als Drogenkurier zu arbeiten. Bald steckt Zeno mitten drin in den Revierkämpfen der Familien. Dem Jungen auf dem Roller, den sie geschickt haben, um ihn umzubringen, verpasst Zeno drei Kugeln. Er oder ich, sagt Zeno – er hat das Duell überlebt. 


Typischer Weg eines Jugendlichen aus den Armenstadtteilen Neapels


Sie behandeln uns wie Tiere, nur Marietto findet alles besser in Nisida, wie ein geiles Fünf-Sternehotel, weil vorher ist es ihm noch schlechter gegangen.

Das Jugendgefängnis auf der Insel Nisida im Golf von Neapel liegt in einer alten Bourbonenfestung auf einem ehemaligen Vulkankrater, der wie ein Halbmond aus dem Meer steigt und sich wie ein natürlicher Swimmingpool zum Golf von Neapel öffnet. 95 Prozent der Häftlinge stammen aus Neapel; sie sind die Drogenkuriere der Mafia oder Auftragsmörder, denn die Camorra sucht gezielt Jugendliche aus, ihre schmutzigen Geschäfte zu erledigen, die im Jugendstrafmaß gut wegkommen. Und, früh übt sich, wer ein Meister werden will. Kinder aus den ärmlichsten Familien. Die Arbeitslosigkeit in Neapel ist hoch, Jugendarbeitslosigkeit bis zu 50 Prozent. Fast alle werden rückfällig, oft sitzen Väter und Brüder parallel im Knast. Eine legale Arbeit anzunehmen, ist in der Regel auch nicht reizvoll, da man von dem Gehalt nicht leben kann, wie sie z. B. im Servicebereich gezahlt wird. Ein hausgemachtes Problem des Mezzogiorno. Francesca Maria Benvenutoin stammt aus Neapel, hat Jura studiert, promovierte als Anwältin für internationales Strafrecht, arbeitet heute in Paris. Sie zeigt mit diesem Roman den typischen Weg eines Jugendlichen aus den Armenstadtteilen Neapels. Im Gefängnis resümiert Zeno sein Dasein, träumt er von einem normalen Leben. Wenn er volljährig ist, wird er in ein Gefängnis für Erwachsene verlegt werden, dort noch einige Jahre einsitzen. Sein Alptraum. 


Drama, das in seiner einfachen Sprache authentisch ist


In den Gassen gibt es aber auch anständige Leute, nicht alle sind kriminell wie ich oder Ciro. Das muss ich auch schreiben, das ist nur richtig. 
Die Anständigen tun keinem weh, malochen und haben nicht mal ne Knarre im Haus.
Wie Natalia ihr Vater und andere wie er.
Vielen von denen geht das alles tierisch auf die Eier, wie wir noch Kinder sind und der Tod schon unser Freund.

Zeno hat eine «Verlobte», Natalia, hofft, dass sie auf ihn warten wird. Doch er weiß, ihr anständiger Vater kann ihn nicht leiden, wird versuchen, seine Tochter einem anständigen Mann in die Hände zu geben. Zenos große Schwester hat ein gutes Los gezogen, einen Mann geheiratet, der gut verdient, ohne kriminell zu sein. Doch sie hat sich völlig von der Familie abgekapselt, will nichts mehr von ihrem Barrio wissen. Wir erfahren aber auch ein wenig über andere Häftlinge, wie den sehr hübschen, stillen Gaetano, der eine zarte Seele ist. Der sitzt für die Tat eines anderen, damit seine Familie von dem Blutgeld für ihn überleben kann. Bald ist es so weit: Der Tag der Volljährigkeit, die Verlegung ins richtige Gefängnis zu den Männern. Gaetano erhängt sich in der Nacht vor seinem Geburtstag. Ein Drama, das in seiner einfachen Sprache authentisch klingt, eine Geschichte, die ans Herz geht. Für Authentizität hat sicherlich auch die Erfahrung als Juristin von Francesca Maria Benvenuto beigetragen. Der Mezzogiorno und seine armen Menschen, die Camorra, die N’drangheta, junge Menschen, die zu Kriminellen erzogen werden. Hier hat sich bis heute nicht viel geändert. Der Staat versagt auf ganzer Linie – daran wird auch die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia nichts ändern. 

Der echte Mörder, der Sohn von einem Dreckskerl aus dem Rione Sanità, zahlt Gaetano seiner Familie eine Million Lire für jedes Jahr, das er unschuldig im Gefängnis sitzt. Und die Familie von Gaetano ist noch ärmer wie ich und Mamma zusammen und hat Ja gesagt. Und das scheint mit doch das Normalste von der Welt! Ich hätt genauso Ja gesagt!


Francesca Maria Benvenuto, geb. 1986 in Neapel, schloss ihr Jurastudium mit einer Promotion in Internationalem Strafrecht ab. 2012 setzte sie ihre Ausbildung an der Sorbonne fort und arbeitet seitdem als Anwältin in Paris. Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ihr erstes Buch.




Francesca Maria Benvenuto
Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer 
Originaltitel: ‎ L’amore assaje
Übersetzt von Christine
 Ammann
Zeitgenössische Literatur, Coming-of-Age, Drama, Jugendkriminalität, Nisida, Neapel, Mezzogiorno, Mafia, Camorra, italienische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 176 Seiten
Kunstmann Verlag, 2024


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe