Direkt zum Hauptbereich

Die spürst du nicht von Daniel Glattauer - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die spürst du nicht 


von Daniel Glattauer

Gesprochen von: Tessa Mittelstaedt, Steffen Groth
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 8 Std. und 46 Min.


Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14 Jahre alt, darf ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia, Asylstatus der Familie: anerkannt. Kaum hat man sich mit Prosecco und Antipasti auf der Terasse in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe. Man wollte Aayana das Schwimmen beibringen – doch bevor es dazu kommt, ist sie im Pool ertrunken. Kann man die Familien dafür verantwortlich machen? Muss man ein 14-jähriges Mädchen ständig beaufsichtigen? Die italienische Polizei ermittelt, aber schnell stellt sie fest: Das ist ein schrecklicher Unfall, niemand trägt die Schuld.


‹Aayana, alles okay mit dir?›, ruft Elisa hinüber.

‹Ja›, kommt es mit dünner Stimme zurück.

‹Geht es dir gut?›

‹Danke. Und Ihnen?›

‹Du kannst ruhig du sagen. Ich bin die Elisa.›

‹Danke.›

‹Das ist ja wirklich eine Süße, und so brav, die spürst du gar nicht›, meint Engelbert.

‹Sie spricht auch schon sehr gut Deutsch›, lobt Melanie.

‹Zumindest ,Danke‘ kann sie gut, viel mehr hat sie noch nicht gesprochen›, bemerkt Oskar.

‹Ich finde das jedenfalls großartig von euch›, sagt Melanie.

‹Was?›

‹Dass ihr ein Flüchtlingskind mitgenommen habt. Schon rein als Symbol.›

‹Als Symbol wofür?›, fragt Oskar.

‹Als Symbol dafür, dass ... dass ... dass auch die Chancenlosen einmal eine Chance kriegen. Es ist ja alles so verdammt ungerecht verteilt. Was kann das Kind dafür, dass es irgendwo im hintersten Afrika zur Welt gekommen ist und nicht in ... in ...›

‹Wien-Döbling›, ergänzt Oskar.


Man übt sich im Totschweigen

Elisa Strobl-Marinek ist eine prominente Politikerin der Grünen in Österreich, und schnell erreicht der Fall die Medien, und sie hat Angst, dass ihre Karriere in Gefahr geraten könnte, denn sie hat Chancen auf einen Ministerinnenposten. Ihr Mann, Uni-Prof Oscar, nimmt sich einen Anwalt. Ein alter Studienfreund, ein g`schmieriger Laffel. Für die Binders interessiert sich niemand, keine Promis, es war ja auch nicht «ihr Kind», für das sie Verantwortung trugen. Engelbert, ein «kleiner stämmiger Mann Mitte vierzig», ein «Spitzen-Biowinzer» aus Niederösterreich, seine Frau Melanie arbeitet im Veranstaltungsmanagement. Sophie Luise wird in der Schule in die Mangel genommen und muss mit ihren Selbstvorwürfen leben. Man übt sich im Totschweigen, strampelt weiter im Hamsterrad – jeder für sich in seinem. Für Reflexion bleibt keine Zeit; und die Angst sitzt im Nacken, dass man sich hierbei etwas eingestehen könnte, das man lieber begraben möchte. Doch die Medien und Social media sind an der Sache dran, die Kommentare aus Internet-Foren überschlagen sich. 


Auch die Sprache kippt


Das Unglück hat sich in die Hinterköpfe gegraben und dreht dort Endlosschleifen. Es löst die Strukturen zweier Familien auf, versetzt deren Alltag in chronische Ausnahmezustände, kontrolliert die Nächte, dirigiert die Träume, und jedes Erwachen führt zum Ausgangspunkt zurück…


Immer wieder wird hier aus Medien zitiert und Kommentare der User offeriert. Das ist lebendig, lebensecht, auch wenn der Autor hierbei stark an Klischees vorbeischrammt – ebenso in seinen Figuren, manche, die Überspitzung zur Karikatur macht. Das ist gewollt; Satire bedient sich daran. Es gab eine Phase für mich, in der ich dachte: Nun ist aber gut. Wir wissen es. Der Plot kippte in Langeweile. Doch plötzlich zog die Sache an. Zwei spannend eingeflochtene Stränge, die der Geschichte eine Wendung geben, lassen spannend auf das Ende zureiten. Auch die Sprache kippt – wandelt von Sarkasmus zur Empathie. Das ist gut gelungen.


Eine Gesellschaftsglosse mit Humor und Empathie aufbereitet


Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters.


Was ist ein Menschenleben wert? Und jedes gleich viel? Daniel Glattauer präsentiert starke Dialoge, Sprachwitz und setzt mit Slapstick bissige Satire ein. Er zeichnet ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft, entlarvt ihre Doppelmoral durch, Arroganz, Ignoranz, Rassismus, Egoismus und Vorurteil; Gutmenschen, die Interesse heucheln für die Armen und Fremden, letztendlich an diesen Menschen gar nicht interessiert sind. Sehr fein am Anfang dargestellt, wie man Ayana neue Bekleidung kauft, einen Bikini, Sommerkleidung – man will sie befreien vom Kopftuch und Burkini, ihr die Freiheit geben, sich zu emanzipieren von Religionsvorschriften, vom Elternhaus. Niemand fragt sie, ob sie das überhaupt will. Wer ist eigentlich Ayana? «Keine Schülerin weiß irgendwas über sie, außer das Offensichtliche, dass ein schwarzes Kopftuch ihre schwarzen Haare und die schwarze Stirn ihres schwarzen Gesichts verhüllt.»  Niemand weiß etwas über sie, ihre Familie, wer sie ist, wo sie herkommt und warum. Denn eigentlich hat es auch niemanden interessiert. Daniel Glattauer verleiht am Ende jenen eine Stimme, die viel zu selten zu Wort kommen. Ein Roman, den man unbedingt lesen sollte! Ein gutes Thema, eine Gesellschaftsglosse mit Humor und Empathie aufbereitet.


Daniel Glattauer, geboren 1960 in Wien, Bücher (u. a.): Die Ameisenzählung (2001), Darum (2003), Der Weihnachtshund (Neuausgabe 2004), Theo (2010), Mama, jetzt nicht! (2011), Ewig Dein (2012), Geschenkt (2014). Mit seinen Romanen Gut gegen Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009) schrieb er Bestseller, die auf der ganzen Welt gelesen werden. Die Komödie Die Wunderübung (2014) ist als Buch, am Theater und als Film sehr erfolgreich. Auf der Bühne sind auch die Komödien Vier Stern Stunden und Die Liebe Geld zu sehen. Und 2019 kam die Verfilmung von Gut gegen Nordwind ins Kino. Zuletzt erschien der Roman Die spürst du nicht (2023).



Daniel Glattauer
Die spürst du nicht
Gesprochen von: Tessa Mittelstaedt, Steffen Groth
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 8 Std. und 46 Min.
Zeitgenössische Literatur, Österreichische Literatur, Wohlstandsgesellschaft
Hörbuch Hamburg, Audible, 2023
Zsolnay Verlag, Hardcover, 304 Seiten,  2023



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Abbruch - Virtuoso von Jelena Moskovich

  Virtuoso  von Jelena Moskovich Jelena Moskovich hat einen schrägen Roman geschrieben, der mich immer wieder zum Abbruch bewegte, andererseits faszinierte, so dass ich weiterlas. Abwechselnd hin und hergerissen. Eine teils surreale Story, mit feinem lyrischen Stil. Ich habe nicht durchgehalten, in der Mitte dann doch abgebrochen. Eine tote Frau in einem Hotelzimmer, die Schauspielerin Céline. Die mit ihr verheiratete Arzthelferin Aimée kommt ins Zimmer, nähert sich dem leblosen Körper, versucht, Céline wiederzubeleben, betrachtet ihn von allen Seiten.  Paranoia war unsere Spezialität. Ich erinnere mich, wie mein Onkel kurz für diesem letzten Herbst 1989 zu meinem Vater sagte, er solle sich auf kein Klo setzen, ohne vorher in die Schüssel zu schauen. Es geht zurück zum Beginn der Beziehung der beiden Frauen, aber auch ins Prag von 1980, zu zwei Kindern, Jana und Zorka. Die Angst im kommunistischen Regime rückt in den Vordergrund und Kindesmissbrauch. Als das kommunistisch...

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris

  Wie ich mein Sternerestaurant zurückließ, in Italien Inspiration für neue Gerichte fand und mich am Ende selbst überraschte Daniel Gottschlich erhielt als erster Koch das Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom – die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstler im Ausland. Ein Koch, als Künstler? Man argumentierte mit dem von Joseph Beuys geprägtem «erweiterten Kunstbegriff», der das Kreative mit dem Künstlerischen gleichsetzt. Tage des Austauschs und der Inspiration, Stunden voller kreativer Eindrücke und künstlerischer wie musischer Erlebnisse. Im Mittelpunkt aber stand: die ausgezeichnete italienische Küche. Neben dem Reisebericht und den Eindrücken gibt es 30 Rezepte. Das erzählende Sachbuch ist eine Mischung aus Reiseliteratur und Kochbuch. Inspirierte Italienische Küche, Kulinarisches der mediterranen Küche, Lieblingsrezepte, Weltküche. Ein gelungenes Buch! Empfehlung! Rezension:   Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris...

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Männer, die die Welt verbrennen von Christian Stöcker

  Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit  Profiteure der fossilen Brennstoffe versus erneuerbare Energien im Zeichen der Klimakatastrophe – wer ist dabei, unsere Welt zu verbrennen und warum? Die Welt steckt in der Endphase eines Kulturkampfs: Gier gegen Gerechtigkeit, Zerstörung gegen Nachhaltigkeit, Zynismus gegen Empathie. Nichts zeigt dies deutlicher als die Reaktionen auf die Klimakatastrophe: Hier jene, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern, dort jene, die alles tun, um aus dem Verbrennen fossiler Stoffe Profit zu ziehen, die behaupten, es gäbe keinen Klimawandel, bzw. das sei alles nicht schlimm. Jahrzehntelang haben Ultrareiche mit ihren Unternehmen mit CO₂-Produktion gut verdienen, mit skrupelloser Desinformation Zweifel daran gesät, dass wir Menschen mit unserer Sucht nach fossilen Brennstoffen die Erde aufheizen.  Ich kann nur jedem raten, dieses Buch zu lesen, wenn er die Klimaerwärmung verstehen will. Denn Öl, Gas und Kohle sind die Haupt...

Rezension - Die Bestimmung der Mondsteinkinder von Maike Harel

  Der kindliche König ist erwachsen geworden, das Land braucht ein neues Kind! Eine neue Prophezeiung ist gesprochen. Der 13-jährige Meelo, ein Perlentaucher, will es probieren – denn er hat Angst vor dem Wasser, eignet sich nicht für den vorgesehenen Beruf. Er schnappt sich den Mondstein der Perlentaucher, macht sich auf den Weg zur Königslese, um sich zu bewerben. Dort lernt er Ria vom Stamm der Flügelhüter kennen, die unbedingt Königin werden will, um die Pferde zu Beschützen – und sie weiht Meelo in ihr Geheimnis ein. Spannendes Fantasy-Abenteuer ab 10 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Bestimmung der Mondsteinkinder von Maike Harel 

Rezesion - Ein Bett für Rosa von Helme Heine

  Die Familie war unbeschwert, doch damit ist es jetzt vorbei. Sie machen sich auf, ein neues Heim zu finden. Opa sagt, er bleibt, ist zu alt, neu anzufangen. Mal nur ein Übergang, mal sind sie nicht gern gesehen, beim Überleben muss man auch schon mal zur List greifen oder als Straßenmusiker arbeiten. Und dann ergibt sich etwas, Mama und Papa können sich damit arrangieren. Doch Rosa gefällt die neue Bleibe nicht, also macht sie sich allein auf den Weg. Sie erlebt einige Dinge, bis auch sie ein neues zu Hause findet. Witzig gestaltet, ein aktuelles Thema – typisch Helme Heine! Bilderbuch ab 4 Jahren – Allage – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Ein Bett für Rosa von Helme Heine

Rezension - Gleich ... von Katja Reider und Sabine Wilharm

  Jeder kennt das, jemand sagt zu dir, was du tun musst: GLEICH? Nein, JETZT! Warum haben es nur alle immer so eilig? Wenn Lenni morgens noch ein bisschen mit Teddy Eddi Dschungel spielen will, soll er zum Frühstück kommen. GLEICH! Und wenn er ein paar Müslikörner auf der Nasenspitze balanciert, soll er sich anziehen. Dabei hat er das passende Shirt für den Waldausflug ja noch gar nicht gefunden! GLEICH! Und GLEICH geht’s los, sagt Papa. Aber dann will Mama vorher noch schnell die Betten machen und was reparieren. Ein lustiges Bilderbuch vom Trödeln und Drängeln, Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Gleich ... von Katja Reider und Sabine Wilharm