Direkt zum Hauptbereich

Die Kinder von Barrøy von Roy Jacobsen - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Kinder von Barrøy 


von Roy Jacobsen


Der Anfang: 

Auf einer Insel, auf der fast niemand wohnt, bleibt kein Anlauf folgenlos, selbst wenn es nur die Milchroute ist. An diesem Tag sich beugte der Kapitän über die Reling des alten Kutters und reichte Ingrid die Zeitung, fast wie eine Quittung für die Milcheimer, die er dann an Bord hievte, langsam und umständlich. Wegen dieser Bewegungen wird er in Erinnerung bleiben, Johannes Hartvigsen, wegen des Langsamen und Umständlichen. Aber an diesem Tag rutschte ein Brief aus der Zeitung, aus heim, mit Briefmarken, die Ingrid noch nie gesehen hatte, und mit Namen und Adresse der Absenderin auf der Ingrid wurde rot, ließ die Zeitung auf den Anleger fallen und machte sich auf den Weg in den Süden der Insel.


Roy Jacobsen schafft es gleich, mit den ersten Sätzen den Leser zu fesseln. Barrøy, eine kleine Lofoteninsel in Norwegen, auf der Ingrid mit ihren Kindern und Enkeln wohnt, mit adoptierten Kindern. Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Johannes Hartvigsen holt täglich mit dem Boot die Milch ab. Er ist seit kurzem alleinerziehend, denn seine Frau ist ihm abgehauen. Irgendwie hat diese Ehe nie zusammengepasst: ein hübsches Mädchen aus gutem Hause und ein alter Schiffer. Johannes hat immer den kleinen Mathias dabei, der Schifffahrten so gar nicht erträgt. Stets die Hand vor dem Mund, ganz blass um die Nase. Ingrid sagt eines Tages, er solle den Jungen bei ihr lassen, am Abend bei der Rückfahrt wieder abholen; er könne mit den anderen spielen. Johannes wird nie zurückkommen. Und so bleibt der fünfjährige Mathias bei Ingrid. Es gibt ein Geheimnis um den Jungen und neue Zeiten brechen an. Nicht jeder Bewohner wird auf der kargen Insel bleiben, auf der das Leben zwar geruhsam ist, aber auch von harter Arbeit geprägt und Kinder müssen zur Schule gehen. Die Welt verändert sich, am Festland wird über Elektrizität gesprochen.


Ein leiser Roman mit sprachlicher Wucht


Ingrid ging hinunter und setzte sich auf den Hocker zwischen den Betten, weckte ihn aber nicht, blieb sitzen und hörte zu, wie ein fremder Junge nach Mama rief, eine Säge durch Stein, sie und er, um herauszufinden, wie stark sie waren.


Ein spröder, wortkarger Menschenschlag, und eine genauso spröde, aber präzise ist die Sprache. Ein sehr guter Beobachter skizziert hier atmosphärisch und eindringlich das Leben auf den Lofoten. Es passiert nicht viel auf der Insel, doch die Szenen, die wichtig sind in diesen Jahren, werden extrahiert auf den Punkt gebracht. Das Geheimnis hinter Mathias wird gelüftet und Ingrid zeigt sich als clevere Geschäftsfrau. Kinder verlassen die Insel, viele Briefe halten die Kontakte untereinander. Und die See gibt und nimmt. Die Schonungslosigkeit und Härte des Lebens wird unterfüttert mit modernen Errungenschaften. Ein leiser Roman mit sprachlicher Wucht. Es sind die kleinen Szenen, die Freude machen, die genauen Beschreibungen beim Heringsfang, das Erlebnis beim Sonntagsausflug einen großen Hai zu fangen, beängstigend für den ein oder anderen Ausflügler an Bord. Ein Buch für Leser des leisen literarischen Romans.


... vollführt die gesamte Drehung zu kurzem, zustimmenden Nicken seines Vaters. Beschreibt dann einen etwas kleineren Kreis. Schiff und Hai im Rudertanz auf dem Meer, Schiff und Hai verfolgen einander in immer kleineren Kreisen, bis sie sich an den gegenüberliegenden Enden einer Diagonale von weniger als hundert Metern befinden.

Jetzt, flüstert Lars, der sich nicht beherrschen kann. 

Er reißt das Schiff auf die Seite und gibt Vollgas über die Diagonale.


Roy Jacobsen schreibt Romane, Novellen, Erzählungen und Kinderbücher und gilt als einer der wichtigsten Autoren Norwegens, wo er mit unzähligen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. «Die Unsichtbaren» wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und war – als erster norwegischer Roman – auf der Shortlist des Man Booker International und des Dublin Award. Roy Jacobsen lebt in Oslo.



Roy Jacobsen 
Die Kinder von Barrøy
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
Roman, zeitgenössische Literatur, norwegische Literatur
Gebunden, 270 Seiten
C.H. Beck, 2021


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Drainting: Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger

  Als Drainting bezeichnet Felix Scheinberger die intuitive Kombination von Malen und Zeichnen. Damit hebt er die jahrhundertealte heute vollkommen unnötige Trennung zwischen Flächen malen und Linien zeichnen auf und verbindet das Beste aus beiden Welten. Früher machten wir einen Unterschied zwischen Zeichnen und Malen und damit fingen die Schwierigkeiten an. Wo es nämlich gar keine Umrisslinien gibt, gilt es, diese abstrakt zu (er)finden. Die intuitive Kombination aus Zeichnen (Drawing) und Malen (Painting) garantiert gute Ergebnisse und unendlichen Spaß! Eine gute Einführung erklärt das Knowhow und Grundsätzliches zum Malen und Zeichnen – gute Ideen, die man selbst umsetzen kann. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

  Gesprochen von Hans Jürgen Stockerl Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 7 Min. Wir schreiben das Jahr 1683. Der junge Engländer Obediah Chalon, Spekulant, Händler und Filou, hat sich in London gerade mit der Investition von Nelken verspekuliert und eine Menge Leute um ihr Geld gebracht, das mit gefälschten Wechseln. Conrad de Grebber, Direktoriumsmitglied der Vereinigten Ostindischen Compagnie bietet Obediah  die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen: Er wird auf eine geheime Reise geschickt, um etwas zu stehlen: Kaffeepflanzen. Spannender Abenteuerroman rund um den Kaffee. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

Rezension - Killer Potential von Hannah Deitch

  Als Evie Gordon an einem Tag bei den Victors klingeln will, steht die Tür offen. Sie ruft, niemand antwortet. Dann findet sie Mr Victor tot im Pool schwimmend, Mrs Victor liegt mit zermatschtem Schädel tot im Wohnzimmer. Das alles muss gerade passiert sein, Evie hat Angst, will das Haus verlassen, als sie leise Hilferufe hört. In einer Kammer unter der Treppe findet sie eine gefesselte Frau. Sie befreit sie. In dem Moment kommt die Tochter nach Hause, schreit entsetzt der Szenerie, geht auf Evie los, die in ihrer Not dem Mädchen eine Lampe über den Kopf zieht. In Panik verschwindet Evie mit der Unbekannten – ein Roadmovie beginnt. Der Roman konnte mich leider nicht überzeugen. Weiter zur Rezension:   Killer Potential von Hannah Deitch

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Waldpilze sind einfach zum Verlieben! Und welche sich zum Essen eignen, erfahren wir in diesem Buch – einschließlich mit Rezepten. Pflücken, zubereiten, konservieren. Flexitarier, Vegetarier und Veganer lieben sie als hochwertigen Fleischersatz. Die Pilzexperten Gerhard Schuster und Christine Schneider zeigen, welche Pilze man wie zubereitet, damit sie zum Hochgenuss werden. Nebenbei räumen sie auch mit alten Mythen auf. Unter den mehr als 50 Rezeptideen gibt es neben den bewährten Klassikern auch echte Pilzküchen-Überraschungen zu entdecken. Weiter zur Rezension:    Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Rezension - Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis

  (Detektivbüro LasseMaja, Bd. 37)  Es gibt hochfliegende Pläne im Ort Valleby: Ein Astronaut macht mit seiner Raumkapsel in der Kleinstadt Station und will als Nächstes den Planeten Neptun ansteuern. Und laut tönt er, er suche Astronaut:innen, die ihn begleiten. Bewerber will er einem Astronauten-Test unterziehen, danach bestimmt er, wer mitfliegen darf! Natürlich benötigt er auch Spenden für sein Projekt. Die Detektiv:innen Lasse und Maja hören genau zu. Und bei dem, was der Mann so erzählt, kommt schnell der Verdacht, dass an der Geschichte etwas faul ist und der Typ ein Betrüger ist. Das teilen sie dem Dorfpolizisten mit – doch der hat gerade keine Zeit für sie. Ein Dieb geht um … Spannender, witziger Kinderkrimi ab 8 Jahren, Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis 

Rezension - Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt

Bendix, der Häuptling des Keltendorfs Taigh, ist außer sich: Jemand hat seinen Honigtopf gestohlen! Lindis, der Ziehsohn der Dorfdruidin Kundra und dessen Freunde Finn und Veda wollen der Sache auf den Grund gehen. War der Dieb hinter der wertvollen Amphore her oder hinter deren speziellem Inhalt? War es einer der fahrenden Händler? Und dann ist auch noch die kleine Tochter der Sklavin verschwunden! Unter dem Vorwand, fischen gehen zu wollen, machen sich die drei Jugendlichen heimlich auf die Suche nach den Händlern und kommen dabei einem Geheimnis auf die Spur … Weiter zur Rezension:    Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt