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Die Kinder sind Könige von Delphine de Vigan - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Kinder sind Könige 


von Delphine de Vigan


Sie wollten ins Fernsehen kommen, um bekannt zu werden. Jetzt waren sie bekannt, weil sie im Fernsehen gewesen waren. Sie würden für immer die Ersten sein.


Mélanie Claux war schon als Jugendliche fasziniert von «Big Brother». Sie ist versessen darauf, ein TV-Showstar zu werden und bewirbt sich auf diverse Formate. Doch sie ist nie über das Bewerbungsgespräch hinausgekommen. Sie heiratet, bekommt zwei Kinder und entdeckt YouTube und Instagram für sich – stellt ihre Kinder aus. Als sich immer mehr Follower um sie sammeln, wird sie für Firmen interessant. Als Influencerin scheffelt sie nun viel Geld. Vom Aufstehen bis zum ins Zubettgehen, die Kinder müssen posen; jede Woche zwei professionelle Filmchen abliefern. Zu Hause türmen sich Spielzeug, Bekleidung, Lebensmittel ... die Kinder sind Stars. Doch eines Tages verschwindet die kleine Kimmy beim Versteckenspielen vor dem Haus. Die Kripobeamtin Clara Roussel nimmt die Ermittlung auf, eine Entführung liegt klar auf der Hand.


Ein Kind wird entführt


Jetzt verstehe ich, warum meine junge Tochter neulich bei Carrefour ein solches Theater gemacht hat, damit ich die Disney-Figuren kaufte, die gerade herausgekommen waren. Und warum sie plötzlich so auf Oreo-Plätzchen steht.


Mélanie ist die berühmteste «Momfluencerin» Frankreichs, sie hat sie meisten Follower, über Fünf Millionen. Mit ihr konkurrieren ein paar andere Familien. Es herrscht Neid untereinander. Clara weiß nicht so recht, wo sie ansetzen soll. Bei den Konkurrenten oder den vielen Followern. We soll man die ganzen Kommentare durchforsten? Denn es gibt nicht nur wohlgesinnte Statements. Es hat sich sogar eine Bewegung zum Kindeswohl gegründet, die dies als Kinderarbeit anprangert. Oder ist hier jemand schlicht auf ein fettes Lösegeld aus? 


Ausbeutung von Kindern im Netz


... ob sie verstehen könne, dass mache Leute ... es schockierend fänden, wenn Kinder derart ausgestellt würden. Mélanie brachte ihr Unverständnis mit einem traurigen Kopfschütteln zum Ausdruck und antwortet dann mit sanftem gelassenem Ton. Als Mutter wisse sie, was für ihre Kinder gut sei und was nicht. Im Übrigen seien es ihre Kinder, bemerkte sie.


Um ein Gefühl für dieses Format zu bekommen, beginnt Clara sich die Filme von dem Blog «Happy Récré» anzusehen. Kimmy und ihr Bruder müssen mit verbundenen Augen riechen, probieren – das Beste unter Gejubel heraussuchen, futtern, was das Zeug hält; sie führen Mode vor und machen unsinnige Callenges. Welches dieser drei Nike-Schuhe würdet ihr kaufen? Kimmy kann sich nicht entscheiden. Gekauft wird das, was das Publikum auswählt. In «Unboxing-Videos» packen die Kinder Pakete aus, die mit Süßigkeiten oder Spielzeug bestückt sind. Kommerzielle Vermarktung von Kindern für Kinder. Ausbeutung von Kindern im Netz, psychische Gewalt an Kindern – wie werden sich solche Kids entwickeln? Diese hier haben keine Freunde – keine Zeit. Sie werden von Privatlehrern unterrichtet, weil sie in der Schule wegen ihres Ruhm gemobbt wurden. Die Eltern leben von ihren Kindern: Die Mutter macht das Marketing, schließt Verträge, schreibt die Drehbücher, und der Vater filmt in seinem professionellen Filmstudio, schneidet. Was so einfach locker herüberkommt, ist lange eingeübt, performanced,; die fünf Minuten für das Publikum sind hart erarbeitet. Und gilt Influencing als Kinderarbeit? Eben nicht. Kinder, die in Film und Theater usw. mitwirken, unterliegen strenger Auflagen. «Sie haben ihr Lächeln gelernt, wie dressierte Affen ihre Nummer lernen.» Zu Hause haben die Eltern die Macht über das Kind. Und wem stehen eigentlich die Einnahmen zu?


Das Bedürfnis nach Anerkennung, Likes treibt Mélanie an


Ich glaube nicht, dass ein dreijähriges Kind davon träumt, YouTube-Star zu werden.


Die Entführer melden sich. Der ausgerissene Fingernagel eines Kindes steckt in dem Umschlag mit einer Anweisung. Mélanie muss vor die Kamera treten, wenn sie ihre Tochter zurückbekommen will ... Protokolle der Vernehmungen der Polizei und Claras Ermittlungen stehen im Mittelpunkt – die Recherche besteht in der Hauptsache in der Auswertung von «Happy Récré», den Gedanken von Clara dazu. Eine Reise in eine Welt, die ihr so fernliegt, denn sie selbst hat keine Kinder. Klara schaut genau hin, analysiert. Wer hat das Recht am Bild? Das Bedürfnis nach Anerkennung, Likes treibt Mélanie an. Es herrscht ungezügelter Konsum und Gier, sinnlose Verschwendung in den Videos, wenn die Kinder durch den Supermarkt laufen und alles, was blau ist usw., in den Wagen schmeißen müssen, um es einzukaufen. Challenges, um des Filmchens wegen. Am Ende gibt es einen kleinen Blick in die Zukunft: Was ist aus Kimmy und Sammy geworden? Ein spannender Roman, ein Thriller, der ein sensibles Thema anspricht, über das wir alle nachdenken sollten. Jeder der schaut und hypt, ist nämlich ein Teil davon! Ein Kriminalroman aus dem Leben gegriffen! Die Figur Mélanie hätte ein wenig mehr Tiefe gebraucht, aber egal, es ist ein hervorragender Gesellschaftsroman mit einem wichtigen Thema! 


Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman «Dankbarkeiten» (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.



Delphine de Vigan 
Die Kinder sind Könige
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Gesellschaftsroman, zeitgenössische Literatur, Kriminalliteratur, Thriller, Influencer
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 320 Seiten
DuMont Verlag, 2022




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