Rezension
von Sabine Ibing
Die Bagage
von Monika Helfer
Gesprochen von Monika Helfer
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 4 Std. und 36 Min.
Der Anfang:
Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten! Dahinter der Berg – wie ein aufrechter Stein. Vor dem Haus eine aufrechte Frau, sie hängt die Wäsche an die Leine, die Leine ist schlecht gespannt, geknotet zwischen zwei Kirschbäumen, einer steht rechts von der Veranda zur Haustür, der andere links. Jetzt gerade klammert die Frau eine Strampelhose fest und ein Jäckchen, also hat sie Kinder.
1914, die Geschichte von Maria und Josef aus dem Vorarlberg in Österreich nimmt hier ihren Lauf. Monika Helfer erzählt die Geschichte ihrer Tiroler Familie über vier Generationen – Maria, ihre Großmutter steht im Mittelpunkt. In langen Gesprächen mit Tante Kata (Katharina) versucht sich die Autorin ihrer Familie zu nähern, ihrer Großmutter, die im Alter von nur zweiunddreißig Jahren starb, Josef folgte ihr bald; ihrer Mutter, die auch früh verstarb. Am Rand des Dorfs, ganz im Schatten der Berge liegen sechs Höfe. Das war die Bagage. Denn hier: «am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war» «und untereinander waren sie auch nicht gut.» Hier hatten sich die armen Leute niedergelassen, die früher als Träger gearbeitet hatten, als Erntehelfer, die von Hof zu Hof zogen, für einen Hungerlohn hart arbeiteten und dann wieder verschwinden mussten; so auch der Vater und der Großvater von Josef. Die «Josef Moosbruggers Sippe» gehört zur Bagage. Zwei Kühe und ein paar Ziegen, ein wenig Land – Josef macht mit dem Bürgermeister kleine Geschäfte, keiner weiß Genaues darüber. Und darum hält der Bürgermeister seine Hand über die Familie. Maria war «Vorbild und Vorwurf», eine schwarzhaarige Schönheit, der alle Männer hinterherschauten, die von den Frauen neidisch gemieden wurde. Eine Frau mit Ausstrahlung, ein Fluch und ein Segen zugleich.
Der Pfarrer reißt das Kreuz von der Wand
Als Josef 1914 zum Kriegsdienst eingezogen wird, sind vier Kinder geboren. Er beauftragt den Bürgermeister, auf Marie aufzupassen und die Familie zu versorgen. Er ist einer der wenigen Männer, die nicht gleich fallen, erhält sogar ein paar Mal Fronturlaub. Nach einem dieser Urlaube lernt Maria den Hannoveraner Georg kennen, der sie zwei Mal kurz auf dem Hof besucht. Maria ist schwanger und der Bürgermeister versucht, sich ihr erpresserisch zu nähern. Grete wird geboren. Das Geschwätz im Dorf hinter verhohlener Hand peitscht auf, angetrieben vom Pfarrer und seinen Predigten, der sogar den Hof stürmt und dort das Kreuz von der Wand reißt. Als Josef nach vier Jahren Kriegsdienst zurückkehrt, ist er sich nicht sicher, ob Grete von ihm abstammt, lehnt das Kind ab, das fünfte von später sieben. Er hat sich verändert, der Wortkarge mutiert zum fast Stummen.
Familiendrama par excellence
Das Mädchen, zwei Jahre alt, steht vor dem Bett, mitten in der Nacht. Es ist Margarethe. Die Grete. Sie zittert.
‹Mama›, flüstert sie.
Die Mama flüstert auch: ‹Komm!›
Die Kleine kriecht zu ihr unter die Decke. Der Vater soll es nicht wissen.
... Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht.
Monika Helfer arbeitet mit Vor- und Rückblenden, teils mit großen Zeitsprüngen, berichtet über das Schicksal der bildschönen, charmanten Maria – viel zu schön für das Dorf, sie hätte besser in die Stadt gepasst, flüstert man im Dorf. Schönheit als Segen und als Fluch. Und obendrauf gehört sie zu den Aussätzigen, zur Bagage. Dorfleben während der Zeit des Ersten Weltkriegs bis hinein in die österreichische Nachkriegsgesellschaft, das Vorarlberg, eine Region der armen Bauern, ein täglicher Überlebenskampf in der kargen Bergwelt. Ebenso thematisiert die Autorin das Frauenbild im Lauf der Generationen. Ein klug aufgebauter Familienroman, eine Biografie, Geheimnisse und Legenden, die diese Familie prägte; Onkel, Tanten, Schicksale; hier wurde nicht der Liebe wegen geheiratet, sondern danach, seinen Platz zu besetzen, die Pflicht zu erfüllen. Die Sprache ist prägnant, schnörkellos, plastisch – besonders fein hallen die Leerstellen nach, bei denen den Figuren sehr nahe kommt. Kurze, knappe Sätze, kurze Schilderungen – die mit Resonanz viel mehr erklären.
Besser das Buch lesen, als zum Hörbuch zu greifen
Da ich das Hörbuch gewählt hatte, rate ich an dieser Stelle zum Buch. Leider wird der Roman von der Autorin gelesen und nicht von einer professionellen Sprecherin. Gleich am Anfang war ich drauf und dran, aufzugeben, habe dann doch bis zum Ende durchgehalten. Der Roman ist klasse. Die Stimme der Autorin ist kratzig und brüchig, als hätte sie eine schwere Erkältung, was aber nur ein Puzzlestück zum Ganzen ist. Sie liest monoton wie ein Leierkasten, setzt ständig falsche Pausen und Satzbetonungen, was zu Irritation führt. Manchmal hat man das Gefühl, sie sucht die nächste Zeile. Leider ist so, dass die wenigsten Autoren gut lesen können. Die Sprachkunst des Schreibens beherrscht Monika Helfer sehr gut. Soll sie dabei bleiben. Die Sprachkunst des Sprechens gehört in eine andere Berufssparte und will auch gelernt sein.
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium, dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman «Schau mich an, wenn ich mit dir rede» (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für «Die Bagage» erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschien von ihr bei Hanser «Vati», ein weiterer biografischer Roman.
Die Bagage
Gesprochen von Monika Helfer
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 4 Std. und 36 Min.
Der Hörverlag 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten, Hanser Verlag, 2020
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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