Direkt zum Hauptbereich

Die Annonce von Marie-Hélène Lafon - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Die Annonce 

von Marie-Hélène Lafon


Bauer, sanft, sechsundvierzig, sucht junge Frau, die das Land liebt.


Bauer sucht Frau. Paul, 46 Jahre alt, Bauer in der Auvergne, auf tausend Metern Höhe betreibt er den familieneigenen Hof und hat die Einsamkeit satt, gibt eine Annonce auf. Vom anderen Ende Frankreichs antwortet aus einer tristen Industriestadt Annette, 37 Jahre alt, ist nur im Paket mit dem elfjährigen Sohn Éric zu haben. Die beiden treffen sich auf halber Strecke und tauschen dabei Fotos aus, Anette zieht mit Eric bei Paul ein, nur Koffer und ein paar Möbel im Gepäck. Die große Liebe ist es nicht, Zuneigung, eine Zweckgemeinschaft, bei der jeder sein Ziel verfolgt. Annette hatte sich immer die falschen Männer ausgesucht, hat sich von Érics Vater getrennt, ein brutaler Alkoholiker und Kleinkrimineller, der nun im Gefängnis sitzt. Sie hat das ärmliche Leben als Kassiererin in der Stadt satt, schlimmer kann es nicht werden, für Eric kann es nur bergauf gehen.


Sie spüren, dass auf dem Hof kein Platz für sie ist

… nach dem Kaffee in drei Sätzen verkündete, er werde im Frühjahr einige Renovierungsarbeiten im oberen Stockwerk vornehmen, wo Ende Juni Annette zu ihm ziehen würde, eine siebenunddreißigjährige Frau aus Bailleul im Norden, mit ihrem elfjährigen Sohn.


Die Landschaft der Auvergne ist rau und schroff und faszinierend, «die Nächte sind dunkler» als woanders, der Regen ergießt sich in Fluten über das Land. Auch der Empfang auf dem Hof ist frostig. Pauls starrköpfige 80-jährige Onkel Louis und Pierre und seine Schwester Nicole lassen die beiden Neuankömmlinge sofort unmissverständlich spüren, dass auf dem Hof kein Platz für sie ist. Aber Hündin Lola schließt sofort Freundschaft mit Éric. Annette und Paul sind zwei Unbekannte, die sich arrangieren, in gegenseitigem Respekt, zum Trotz gegen die Feindschaft von Pauls Verwandten. Der Leser taucht ein in die karg-schöne Landschaft, in die Probleme der heutigen Landwirtschaft und langsam breiten sich die Lebensläufe der beiden Protagonisten aus. Eine Milieustudie aus dem Arbeitermilieu und eine über Bauern in Frankreich, die gegen Landflucht und Agrarpolitik ankämpfen. 


Die Autorin agiert mit Worten, Rhythmus, mit Satzzeichen, mit Brachylogie

Nicole und die Brüder waren anders gestrickt. Hätten sie den geringsten Wind bekommen von dem schrecklichen Vorleben der Frau und des Jungen, deren Anwesenheit in ihrem Revier Paul ihnen aufzwang, sie hätten mit Zähnen und Klauen gekämpft, erbarmungslos und ohne nachzulassen, … (die Mutter) nur halb davon überzeugt zu haben, dass ihr dieses neue Leben auf die Dauer gelingen könnte, das sie gewollt hatte, darauf bedacht, ein Heim zu schaffen, es zumindest noch einmal zu versuchen, bevor Alter, Illusionslosigkeit und alles andere sie endgültig untauglich machen würden zu deser gewagten Akrobatik des aus Einzelteilen zusammengesetzten Paars.


Marie-Hélène Lafon dringt tief in die Charaktere hinein, legt die Gedanken der Protagonisten offen. Der schmale Roman ist eine sprachliche Perle! Die Autorin agiert mit Worten, Rhythmus, mit Satzzeichen, mit Brachylogie. Sie schafft Emotionen mit Inquits, und trotz aller Nüchternheit transportiert sie bewegende Bilder. Lange Sätze, Aufzählungen, das Fehlen von Satzteilen und Kommata treibt das Gesagte wild voran, um später ausgeruht sich treiben zu lassen. Es ist eine Freude, solch gekonnt gesetzten Text zu lesen!


Marie-Hélène Lafon, geb. 1962, gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im heutigen Frankreich. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal in der Auvergne, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Seit vielen Jahren lebt und schreibt sie in Paris. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle, 2020 den Prix Renaudot.



Marie-Hélène Lafon 
Die Annonce
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Roman, französische Literatur
Gebunden, 176 Seiten
Rotpunkt Verlag, 2020


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe