Direkt zum Hauptbereich

Der Name seiner Mutter von Roberto Camurri - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Name seiner Mutter 


von Roberto Camurri



An einem Tag im Juli wird er zum Mittagessen nach Hause kommen, es wird heiß sein, der Horizont eine flüssige Linie unter einem unscharfen Himmel.

Die Geschichte zweier Männer, die mit einer ständigen, schmerzlichen Erinnerung an eine Frau leben. Der eine ein Ehemann, der andere sein Sohn, der mit einer Leerstelle fertig werden muss – mit der seiner Mutter, deren Namen er nicht einmal kennt. Eine Vater-Sohn-Geschichte aus Italien, ein literarisches Meisterwerk. Der Roman beginnt ungewöhnlich im Futur, mit der Geburt von Pietro. Ettore erinnert sich an seine Frau, an die Geburt von Pietro, an die Zeit, wie sie sich kennenlernten, an den Urlaub, den er mit dem kleinen Pietro allein in den Bergen verbrachte, an den Tag als sie zurückkehrten und seine Frau verschwunden war. Sie kehre nie wieder zurück, teilt sie mit. Und darum wird auch nie wieder ein Wort über sie verloren. In dieser Familie hat die Namenlose nie existiert. Ettore zieht seinen Sohn allein groß. Seine Eltern sind verstorben, aber er hat ein gutes Verhältnis zu den Schwiegereltern. Aber auch hier wird Pietro kein Wort über seine Mutter hören – nirgendwo gibt es ein Foto von ihr.

Kommunikation und körperliche Nähe  ist dünn


Fabbrico, ein Provinznest in der Emilia-Romagna der norditalienischen Po-Ebene.  Zwischen Feldern und Hügeln ist die Zeit stehengeblieben. Die Jungen sind gegangen, unfertige Häuser stehen am Weg. Roberto Camurri beschreibt ein typisches italienisches Dorfleben: Die alten Männer sitzen in der Bar an der Piazza bei einem Espresso, spielen Karten; es gibt nicht viel zu reden; und Frauen haben hier nichts zu suchen. Ehefrauen machen den Haushalt; ein traditionelles Leben – eigentlich passiert nicht viel über das sich zu reden lohnt. Ettore ist ein schweigsamer Mensch, der allein in der Werkstatt seiner Arbeit nachgeht und seinen Sohn versorgt. Kommunikation und körperliche Nähe zwischen Vater und Sohn ist dünn. Alle Kinder haben eine Mutter, stellt Pietro irgendwann fest. Die Abwesenheit, die Leerstelle, nach der Pietro sich nicht zu fragen traut, steht wie ein Puffer zwischen Vater und Sohn. Die Großeltern Livio und Ester sind sehr liebevolle Menschen. Aber auch hier die Leerstelle, aus dem Familienalbum wurde die Tochter entfernt. Das Fehlen dieser Frau, die Dialogunfähigkeit der Familie lastet auf Pietro. Es raubt ihm die Kraft, sich auf andere Menschen einzulassen, ein inneres Misstrauen begleitet das Kind, den Jugendlichen, den Mann. Was ist damals geschehen?

Die Familienleerstelle: die Mutter


Pietro hebt den Blick, als suche er nach etwas, nach jemandem, es ist, als suche er in der Vitrine der Bar, zwischen den ausgestellten Hefeteilchen, den Brötchen, den Stücken von Mangoldkuchen, den Tramezzini, als suche er zwischen den Tischbeinen, auf dem falschen Marmorfußboden, zwischen den Stühlen und Kleiderständern neben der Türe, als suche er draußen vor dem Fenster neben ihnen, es ist, als suche er und fände nichts, als er wieder seinen Großvater anschaut und nach einem letzten Blick auf das Foto, auf seine Mutter, die ihn im Arm hält, fragt, was bedeutet Hure?

In einer Schlüsselszene wird Vater und Sohn ihr Dilemma vor Augen gehalten: Sie kaufen einen Welpen, der der Hündin entrissen wird, die an der Kette liegt. Der Hund ist ein Familienmitglied, endlich ein Thema, über das die beiden reden können. Der Junge fragt sich, ob der Schmerz, seine Mutter zu vermissen, je ein Ende haben wird. Was ist damals geschehen? In Italien hat die Mutter im Leben eines Jungen eine hohe Bedeutung. Der «mammismo»-Kult in Italien – das Prinzchen, der verzogene Mamasohn. Pietro bleibt nur ein luftleerer Raum ohne Namen. Sein Großvater zeigt ihm eines Tages ein abgewetztes Foto, das er im Portemonnaie mit sich trägt: Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm: Pietro und seine Mutter. Und schon ist die Tür wieder geschlossen, das Bild wandert zurück in den Geldbeutel. Kleine Puzzleteile fließen durch Erinnerungen ein. Ettore fährt mit dem ständig hustenden Kleinkind allein in die Berge, weil es dem Jungen guttun soll. Als er zurückkommt, ist seine Frau verschwunden. Er beschreibt Wutausbrüche, Kommunikationslosigkeit, Gewalt, eine abweisende Frau. Gleich am Anfang erfahren wir von der schweren Geburt. Pietro liest im Tagebuch seiner Mutter, ein völlig gefühlloser Text, der nur Fakten aufzählt: der Tag war gut, da Pietro nur 16 Stunden geschrien hat, vermerkt sie. Eine überforderte Mutter? Was ist geschehen? Die Angst vor dem Verlassenwerden – etwas das Vater und Sohn hindert, sich auf Beziehungen einzulassen. Am Ende kommt Licht in die Geschichte, ein Hoffnungsschimmer, eine neue Generation.

Er beobachtete, wie sich die Bärin auf den Rücken legte und der Kleine auf ihr herumkrabbelte, hüpfte und zubiss, er sah die Pfoten zappeln vor dem Himmel, der allmählich blau wurde, im Wind, der nicht nachlassen wollte, im Tosen des Wasserfalls, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.

 

Eine Familiengeschichte, atmosphärisch dicht


Gleichzeitig beschreibt Roberto Camurri Landschaften mit allen Sinnen, die flirrende Hitze, die knochige Kälte, zarte Winde, die Maisfelder zum Wiegen bringen, die Düfte der Natur, die Farben in vorbeiziehenden Jahreszeiten. Er charakterisiert eine althergebrachte ländliche Bevölkerung, die keine Zukunft hat, nicht in dieser Form; eine Zeit, die zu stehen scheint. Er ist der Meister der langen Sätze, die sich so leicht und fließend lesen, dass dem Leser die Satzlängen nicht auffallen. Gleichzeitig ist er ein Meister der Verdichtung. Verdichtung von Szenen und Dialogen.  Ein erzählerisch starker Roman, eine Familiengeschichte, atmosphärisch dicht. Meine Empfehlung!


Roberto Camurri, geb. 1982, lebt und arbeitet in Parma. Sein erster Roman, A Misura d’Uomo (2018), war ein Bestseller in Italien und wurde mit dem Premio Opera Prima sowie dem Premio Procida-Elsa Morante ausgezeichnet. Der Name seiner Mutter ist sein zweiter Roman.



Der Name seiner Mutter
Originaltitel: Il nome della madre, 202
Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug
Roman, Familiengeschichte, italienische Literatur 
Kunstmann Verlag, 2021


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans 

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...