Direkt zum Hauptbereich

Das Lieben der Anderen von Silke Knäpper - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing




Das Lieben der Anderen 

von Silke Knäpper 


Der erste Anfang: Was macht eine wie ich auch nachts hier draußen, dachte Helen, als ihr diese Frau vor die Füße fiel. Ein dumpfer Aufprall, der Bruchteil einer Sekunde nur, eine Art Knacken, das war das Schlimmste.

Was für ein Anfang! Und es lohnt sich, weiterzulesen. Das Lieben der anderen, nicht das Leben … Da fällt unserer Icherzählerin Helen des Nachts eine Frau vor die Füße. Kein Schrei – einfach plopp. Es ist auch völlig klar, so verdreht wie dort liegt, mit offenen Augen - sie ist tot. Anstatt die Polizei zu informieren, beschaut sich Helen die schöne Frau ganz genau. Wohlhabend muss sie sein. Was mochte ihr Grund gewesen sein, von irgendwo dort oben vom Balkon zu springen? Neugierig befühlt Helen die Manteltaschen der Frau und steckt ihren Schlüssel ein. Zurück in ihrer eigenen Wohnung, beobachtet sie vom Fenster aus, was nun passiert. Plötzlich geht ein Mann auf die Leiche zu, gekleidet mit einem teuren Mantel, schaut sich die Frau an. Er kennt sie, da ist sich Helen sicher, denn sein Gesicht spiegelt Traurigkeit und Liebe wieder. Wer mag das sein? Aber was macht er? Er schleicht sich von dannen? Dieser Mann hat Helen in seinen Bann gezogen.

Das Leben der anderen war erfüllt, dachte Helen, und aufregend. Bunt. Nicht so blass wie ihr eigenes Dasein, das ihrem schmächtigen Körper glich, so hager und androgyn, unweiblich, flachbrüstig, ohne Höhen und Tiefen.

Helen , die niemand wahrnimmt

Helen selbst sieht sich als die Frau, die niemand beachtet, die graue Maus in der abgetragenen Strickjacke, die als Erzieherin in einem Kindergarten arbeitet. Wie gern hätte sie die Aufmerksamkeit der andern, aber sie hat nur sich selbst, hungert nach einem erfüllten Leben. Ihre Eltern und der Bruder sind verstorben, aber auch die haben sie nie beachtet. Ihr Vater, der Dorfcasanova, zog den Bruder vor. Und da ist Robert, die einzige Beziehung, die sie je hatte. Auch der hatte sie eingetauscht gegen eine andere. Helen ist mit sich selbst nicht im Reinen, eine Ritzerin, eine Zerstörerin, eine, die gern eine andere sein möchte, eine die hinter der Gardine das Leben der anderen beobachtet und beneidet. Der Mann der Toten hat es ihr angetan, sie fängt an, ihn zu beobachten. Eine Raupe kriecht aus ihrem Kokon und möchte fliegen lernen.

Ich habe Probleme zu atmen, mein Brustkorb schnürt sich zu, mein Herz rast. Ich habe Angst zu ersticken. Haben sie niemals Panik, Herr Doktor? Oder Angst vor dem Leben?
Um mich geht es jetzt nicht, Frau Winter.

Robert, der Charismatiker

Und da wären wir bei der zweiten Ichperspektive, Robert, der mit Clair verheiratet ist, die vom Balkon fiel. Der charismatische Psychoanalytiker hat selbst ein Problem: Die Frauen sind ihm verfallen und er ihnen. Er weiß nicht, dass Helen ihn in der Nacht gesehen hat, gesehen hat, wie er sich über Clair beugte und sich dann von dannen schlich. Eines Tages empfängt er eine neue Patientin: Helen Winter. Er muss sie gleich in die Schranken weisen, als sie seinen Stuhl ansteuert. Sie wirkt ein wenig übergriffig. Eine Schneekönigin mit einem Eissplitter im Herzen.

Wie weich doch seine Haare waren, wie unruhig sein Blick. Als wäre sie, Helen, in Bereiche vorgedrungen, die er niemandem freigab.

Silke Knäpper beobachtet genau

Ist dieses Buch ein Psychothriller. Ja, so würde ich den Roman am Ende einordnen, ein Drama. Allerdings ist es ein tiefgründiger, ein literarischer Thriller. Silke Knäpper hat ihre beider Charaktere feinsäuberlich ausgearbeitet und lässt sie ganz langsam aufeinanderkrachen, denn niemand steckt hier zurück. Man möchte keinen von beiden kennenlernen, Helen die Stalkerin und Robert, den Frauenflüsterer. Das Erfrischende an dieser Story ist die Normalität. Diese Geschichte könnte genau so geschehen sein. Voyeuristisch hängt der Leser an den Zeilen. Wie weit wird Helen gehen? Kann sich Robert von ihr befreien, wenn ja, auf welche Weise? Wie endet das Drama? Ständig breiteten sich diverse Schlussszenarien in meinem Kopf aus. Ein Drama, das ist nach den ersten Seiten klar. Silke Knäpper beobachtet genau, auch die Innenansichten ihrer Figuren, ihr Dilemma mit der Wet. Rhythmische Sprache, geschliffene Sätze, die es auf den Punkt bringen. Das alles in einer Form, die sich wundervoll lesen lässt. Doch halt. Manche Sätze sind so tiefgründig und fein formuliert, dass man sie gleich noch einmal lesen will. Von dieser Autorin möchte ich noch mehr lesen.


Silke Knäpper hat Romanistik, Germanistik und Anglistik in Wien, Freiburg und Köln studiert. Nach Lehrtätigkeiten in Saint-Cloud bei Paris und in London kehrte sie 2001 wieder in ihre Heimatstadt Ulm zurück, wo sie heute als Lehrerin an einem Gymnasium unterrichtet.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

  Der neue Assistent der Ostberliner Plankommission, Grischa, soll sich um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan kümmern. Genosse Burg, der Chef, erklärt das Problem: «Die Afghanen haben nichts.» Grischa ist kreativ, bricht in die Monotonie der alten Männer ein, vor Arbeitskraft strotzend, und er äußert eine verwegene Idee. Grischas Chef kommt aus dem Staunen nicht raus, ebenso die greisen Minister im Zentralkomitee: Wir lassen die Genossen in Afghanistan Medizinalhanf produzieren, den wir an die Bürger der BRD gegen kräftige Devisen verkaufen. Ein Schelmenroman, eine coole Persiflage, die satirisches Licht in diese Angelegenheit bringt, auf jeden Fall gute Unterhaltung. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Welt der Haie von Darcy Dobell und Becky Thorns

  Lerne die faszinierenden Lebewesen der Ozeane kennen  Haie zählen zu den ältesten Lebewesen dieser Erde. Sie schwammen bereits durch die Ur-Ozeane, lange bevor es Dinosaurier gab. Viele Legenden ranken sich um die Tiere mit den furchteinflößenden spitzen Zähnen. Doch wie gefährlich sind Haie wirklich? In diesem Buch erfahren wir nicht nur, weshalb Haie Überlebenskünstler sind und wie viele verschiedene Arten wir heute kennen, sondern auch einiges über ihre besonderen Gebisse, ihr eigentümliches Seitenlinienorgan und ihren ausgezeichneten Geruchssinn. Ein sehr feines Sachkinderbuch zum Thema Meerestiere – Haie, ab 5/6 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Welt der Haie von Darcy Dobell und Becky Thorns 

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox