Rezension von Sabine Ibing
Herz auf Eis
von Isabelle Autissier
Der Anfang: »Sie sind früh aufgebrochen. Es verspricht einer der erhabensten Tage zu werden, die zuweilen in den wilden Breiten herrschen, der Himmel tiefblau, wie flüssig, so klar wie nur hier, am fünfzigsten Breitengrad Süd.«
Robinsongeschichte
Louise und Ludovic wollen ein Sabbatjahr nehmen, um «aus der Erstarrung des Pariser Büroalltags auszubrechen». Sie haben sich für ihren Segeltörn ausgiebig vorbereitet. Er ist Manager, ein Typ, der auffällt, einer mit Charisma, sie eine unscheinbare Finanzangestellte und passionierte Bergkletterin. Die beiden Charaktere könnten verschiedener nicht sein. Die Beziehung kriselt, die Reise soll abhelfen. Die Fahrt ist perfekt, das Boot läuft rund, die beiden besuchen wundervolle Orte, das Leben kann schön sein. Auf ihrer Route liegt auch Stromness, eine ehemalige Walfangstation in der Stromness Bay an der Nordküste Südgeorgiens im Südatlantik, die seit ewigen Zeiten stillgelegt ist, auf der 1916 bereits Ernest Shackleton landete. Es handelt sich um ein Naturschutzgebiet und es ist verboten, dort anzulegen. Im Beiboot fährt das Paar die Station an. Ludovic möchte den Berg hinter der Station hinaufklettern, ein wenig ins Landesinnere wandern. Louise erscheint das zu gefährlich, doch sie lässt sich überreden, sie haben weder Funk noch Handys dabei, wollen nicht geortet werden. Das Wetter schlägt um. Als die beiden zurückkehren, tobt die See, sie ziehen das Beiboot an Land und übernachten in der Walfangstation, mitten in Schmutz und Gestank. In der Nacht stürmt es heftig und am Morgen ist das Segelboot verschwunden. Nun müssen sich Louise und Ludovic darauf einrichten, etwas länger auf der Insel zu weilen, vielleicht sehr lange, ganz ohne Ausrüstung …
»Zuerst ist Louise einfach überwältigt, dass so ein schöner Mann mit ihr zusammen ist. Doch immer mehr liebt sie ihn dafür, dass er ihr gibt, was sie nicht hat.«
Alles ziemlich kalt
Zunächst einmal eine aufregende Geschichte und viele Leser mögen diesen Roman. Mir ist die Geschichte auf Grund des Schreibstils nicht nahegegangen. Herz auf Eis, es wird kalt, nicht nur an Land, auch in der Beziehung kriselt es. Das Buch ist kalt, durch und durch. Auf der Insel ist es kalt. Louise ist kalt. Ludovic ist kalt. Die Perspektive, personal aus der Sicht von Louise, sehr distanziert, sehr entfernt. Die Charaktere sind für mich oberflächlich dem Leser präsentiert, teilweise klischeehaft. Die Distanziertheit passt zu vielen Szenen, man möchte nicht dicht dran sein, wenn das Paar reihenweise Pinguine und Robben erschlägt, um zu überleben, das einzige Essbare, was zu finden ist. Naturschutzgebiet hin oder her. Wie Brecht schon sagte: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«
»Beide bringen ihr Argumente vor, aber im Grunde hat Louise doch Angst, allein aufzubrechen. Selbst in den Bergen hat sie niemals irgendetwas riskiert ohne den Schutz der Seilschaft.«
Im Überlebenskampf sind Gesetz und Moral außer Kraft gesetzt
Der Erzähler erklärt, es gibt wenig Dialoge, immer weit entfernt von den Protagonisten, kaum Gedanken. Auch von der Landschaft ist nichts zu spüren, von der Tierwelt. Gut, kein Blick für die Natur, denn die beiden sind den ganzen Tag mit Nahrungssuche beschäftigt, aber auch diese Verzweiflung kommt nicht durch. Die beiden Protagonisten kommen mir nicht nah, ich will sie nicht unbedingt sympathisch finden (das sind sie nicht), aber ich will sie verstehen. Der Erzähler erklärt oberflächlich und schablonenhaft, was sie tun, er lässt den Leser außen vor, lässt ihn kalt in der Ecke stehen. Überlebenskampf, Verzweiflung und Schuldzuweisungen, ein gutes Thema, aber es prallt von mir ab, die psychischen Abgründe der Protagonisten tun sich nicht vor mir auf. «Diese dramatische Situation macht sie zu anderen Wesen», das steht dort, wie viele andere Aussagen, aber die Autorin schafft es für mich nicht, genau dieses Gefühl zu projizieren. Entscheidungen fällen in Extremsituationen, ein feines Thema, doch der Leser erfährt kein warum. Ich lese, sie befinden sich auf einem Naturschutzgebiet, das als besonders eindrucksvoll gilt. Doch an welcher Stelle im Buch ist genau das verankert? Da ist nichts beeindruckend. Ist das Absicht?
Was hallt nach?
Am Ende nimmt die Autorin auch noch den Medienrummel mit in das Buch, ein Journalist möchte die Story gern vermarkten. Hier gilt das Gleiche wie für den Inselabschnitt, es prallt ab. Die Nebenfiguren sind flach und klischeehaft, aber auch die Hauptprotagonisten geben für mich nicht viel her. Das Buch hat 224 Seiten und meist bin ich der Meinung, weniger ist mehr. Hier ist es mal völlig umgekehrt, hier fehlt mir Tiefgreifendes. Am Ende stehe ich da, frage mich, was übrig bleibt. Eigentlich nichts, was nachhallt. Viele Reportagen sind packender erzählt. Bitte nicht falsch verstehen, das Buch ist spannend, die Story interessant, nur berührt es eben nicht. Die Figuren Robinson und Freitag von Daniel Defoe Roman waren mir näher. Anderen gefällts …
Isabelle Autissier, geboren 1956, ist Seglerin und hat als erste Frau die Welt alleine umsegelt. Nach einem beinahe tödlichen Unglück im Südpazifik hat sie 1999 ihre Karriere als Einhandseglerin beendet, nimmt jedoch weiterhin an Regatten auf dem gesamten Globus teil.
Herz auf Eis
Zeitgenössische Literatur, Französische Literatur
Hardcover, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
mare Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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